Cherson. Befreit und doch unter Beschuss: In der süd-ukrainischen Stadt Cherson brauchen Helfende, die das Nötigste bringen, besonderen Mut.

Die alte Dame schleppt sich langsam auf ihrer Gehhilfe zum Auto ihrer Helfer, an ihrer Seite beleuchtet ihr ein junger ukrainischer Soldat den Weg. Als wieder Geschützdonner wummert, hält sie kurz inne und blickt ängstlich in den dunklen Himmel über Cherson. „Ich habe Angst vor der Dunkelheit, ich habe Angst vor der Straße“, sagt sie, als sie endlich im Transporter sitzt, der sie aus der Stadt herausbringen wird. Sie sagt aber auch, dass sie froh ist, Cherson verlassen zu können, endlich weg zu kommen von den ständigen Bombardements.

Sonntag, Ende November in Cherson. Dichte Wolken hängen bleiern über der Stadt im Süden der Ukraine, die Straßen glänzen regenfeucht. Vor zwei Wochen haben sich die russischen Streitkräfte, die Cherson seit März besetzt hielten, auf die andere Seite des Dnipro zurückgezogen, dem Fluss, an dessen rechten Ufer sich die Stadt ausbreitet. An der Komkova-Straße stehen an diesem Mittag Dutzende Menschen in einer Schlange aufgereiht, darunter viele ältere Frauen und Männer.

Cherson: Immer wieder donnert in der Ferne Artilleriefeuer

Viktor Myronov, 38, und seine Leute von der ukrainischen Hilfsorganisation „Viking“ holen Kartons aus ihren Fahrzeugen, stapeln sie am Straßenrand. „Wir verteilen heute Wasser und Essen, wir haben Mehl, Butter, Nudeln, Fleisch“, sagt der junge Mann in der Armeekleidung. Er spricht schnell, telefoniert ständig, er ist nervös, weil sie heute noch viel vorhaben, und die Zeit knapp ist. Eines ihrer Fahrzeuge ist mit einem Motorschaden einige Kilometer vor Cherson liegen geblieben. Auch die Menschen, die hier warten, sind nervös. Sie wissen nicht, ob sie alle etwas bekommen werden.

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Immer wieder dröhnt in der Ferne Artilleriefeuer. Es sind die ukrainischen Streitkräfte, die versuchen, die Russen weiter von der Stadt weg zu treiben. Noch liegt Cherson in Reichweite der russischen Mörser und Raketenwerfer, es ist lebensgefährlich in der Stadt. Nur wenige Meter von der Ausgabestelle entfernt steht die ausgebrannte Ruine einer Metzgerei, davor das Wrack eines Autos, gegenüber an der Wand klebt noch das Blut eines Mannes, der hier am Donnerstag gestorben ist, als die Russen den Wohnbezirk mit Raketen beschossen. Sieben Menschen kommen an diesem Tag in Cherson ums Leben.

Ein Helfer von Viking: Die Organisation verteilt Essen und evakuiert bedürftige Menschen aus Cherson.
Ein Helfer von Viking: Die Organisation verteilt Essen und evakuiert bedürftige Menschen aus Cherson. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Vertrieben aus Cherson: Rächen sich die Russen an den Einwohnern?

Als wir am Freitag in Ostrov sind, einem Stadtteil nahe des Dnipro, hören wir selbst die hereinkommenden Geschosse, und wie sie einschlagen. Kurze Zeit später sehen wir an einem zentralen Kreisverkehr die abgedeckte Leiche eines Menschen, daneben eine Einkaufstasche. Es gibt keinen Schutz gegen den Tod aus der Luft, die Entfernung ist zu kurz, um Alarm geben zu können. Am Freitag sterben in Cherson insgesamt zwei Menschen durch den russischen Beschuss.

Es ist, als wollten sich die Russen an den Bewohnern Chersons für ihren Jubel über den Abzug der Besatzer rächen. Die Stadt ist frei. Sicher ist sie nicht. „Wir raten den Menschen, Cherson zu verlassen, es gibt zu viele Terror-Angriffe“, sagt Oleksandr Tolokonnikov, Sprecher der regionalen Militärverwaltung. Jeden Abend verlässt jetzt ein Zug mit Flüchtlingen die Stadt, er fährt ins rund 700 Kilometer nordwestlich gelegene Khmelnytskyi, wo die Menschen aus Cherson Obdach in Schulen und Kindergärten finden. Vor dem Checkpoint vor der Stadt bilden sich kilometerlange Staus.

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Cherson: Wasser- und Gasversorgung sind zusammengebrochen

Von den ursprünglich rund 350.000 Einwohnern sind jetzt noch etwa 80.000 geblieben. Manche wollen trotz des Beschusses nicht gehen. „Wir haben schon so viel ausgehalten, das werden wir auch überstehen“, sagt Oleksandra Kyslova. Sie ist 73 und lebt in Ostrov. Es ist nicht nur der Beschuss, den sie aushalten muss. Es gibt kein fließendes Wasser und kein Gas mehr, seit die Russen die Leitungen zerstört haben, auch die Stromversorgung haben sie bei ihrem Abzug gekappt.

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Knapp zweihundert Meter hinter Kyslovas Haus gibt es einen Brunnen, da holt sie sich jeden Tag Wasser, so wie die anderen Menschen aus Ostrov. „Abends decken wir uns eben mit drei Decken zu“, sagt die Frau in dem eleganten schwarzen Mantel und den kurzen grau-silbernen Haaren. Sie lächelt. „Wir werden das schon überleben. Wir werden standhaft bleiben.“

Andere wollen fliehen, können aber nicht – weil sie zu alt oder zu gebrechlich sind

Andere wollen fliehen, können es aber nicht, weil sie zu alt oder zu gebrechlich sind. Diesen Menschen helfen Viktor Myronov und seine Leute von der Hilfsorganisation „Viking“, die an diesem Sonntag aus Kryvyi Rih, einer Großstadt 150 Kilometer nördlich, nach Cherson gekommen sind. „Wir bringen Menschen raus aus der Stadt“, erzählt Myronov, während er die Verteilung der Lebensmittel an der Komkova-Straße organisiert.

Sie arbeiten zusammen mit Helfern aus Cherson, Freiwilligen wie Sasha, einer jungen Fotografin, die mit Lederhose, modischer roten Jacke und einer Ski-Mütze bekleidet aus der Menge hervorsticht. Sie hat in den vergangenen Tagen hilfsbedürftige Menschen registriert, gleicht jetzt geduldig die Namen und Adressen derjenigen ab, die heute für Lebensmittel und Wasser anstehen. Die 32-Jährige wirkt unbeeindruckt vom Grollen des Krieges.

Fotografin Sasha (rote Mütze) hat in den vergangenen Tagen hilfsbedürftige Menschen registriert,
Fotografin Sasha (rote Mütze) hat in den vergangenen Tagen hilfsbedürftige Menschen registriert, © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Ukraine-Krieg: „Wir werden Cherson wiederaufbauen“

„Viele haben Cherson verlassen, aber viele sind auch zurückgekehrt“, behauptet Sasha. Die Menschen, die in die Stadt zurückgekehrt seien, schreckten die Bombardements nicht ab, auch nicht die miserablen Lebensbedingungen. „Das ist unsere Heimat, wir sind hier aufgewachsen. Wir werden Cherson wiederaufbauen, wir werden bleiben und wir werden gewinnen“, sagt sie und lacht trotzig.

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Je kleiner der Berg mit den Kartons wird, desto nervöser werden die Wartenden. Eine alte Frau weint bitterlich, sie hat sich nicht vor der Verteilung registrieren lassen. „Ich gehe hier nicht ohne etwas weg“, schreit sie. Die Helfer beruhigen sie, geben ihr einen Karton. Es reicht nicht für alle. Böse Worte fallen. Sasha redet beruhigend auf diejenigen ein, die leer ausgegangen sind, sagt ihnen, dass die Helfer aus Kryvyi Rih wiederkommen werden.

Helfer Viktor Myronov.
Helfer Viktor Myronov. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Angriff auf Cherson: „Das ganze Haus hat gewackelt. Es war schlimm.“

Nach der Verteilung auf Komkova fahren die Helfer zu einem Appartementblock ganz in der Nähe, tragen Kartons in die Wohnungen von Menschen, die nicht mehr gut zu Fuß sind. Als alle Lebensmittel verteilt sind, beginnen sie damit, diejenigen einzusammeln, die aus Cherson herauswollen. Auf dem zentralen Freiheitsplatz steigt Iryna ein, sie ist 63, und sie hat sich nach dem Beschuss am Donnerstag entschieden, Cherson zu verlassen. „Da waren so viele Einschläge, mindestens 17, wir konnten sie kaum zählen. Das ganze Haus hat gewackelt. Es war sehr schlimm.“

Es ist mittlerweile dunkel geworden. Einer der Helfer klopft an das Fenster eines Wohnblocks, hier soll eine ältere hilfsbedürftige Frau wohnen. Es dauert eine Weile, dann öffnet die alte Dame das Fenster, schaut ängstlich heraus. Ob sie aus der Stadt herausgebracht werden wolle, fragt Viktor Myronov. „Nein“, sagt sie, aber sie freut sich darüber, als die Helfer einen Lebensmittel-Karton in ihre Wohnung hieven. „Slava Ukraini“, „Ruhm der Ukraine“, sagt sie.

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In einem Nachbarblock finden die Helfer eine Frau, die aus der Stadt herauswill. Lyudmila, 78, sitzt schon auf gepackten Taschen. Seit der Befreiung am 11. November hat sie sich nicht mehr getraut, die Wohnung zu verlassen, erzählt sie, der Beschuss hat ihr Angst gemacht. Die jungen Helfer tragen ihren Papagei und ihre Taschen hinaus, dann schleppt sie sich an ihrer Gehhilfe zum Transporter, an ihrer Seite der junge Soldat, der ihr den Weg leuchtet. Als sie in den Transporter einsteigt, schaut sie noch einmal zu ihrem Haus zurück. In einigen Wohnungen leuchtet wieder Licht. Die ukrainischen Behörden haben einen Teil des Stromnetzes reparieren können.

Lyudmila, 78, wird aus ihrem Haus evakuiert.
Lyudmila, 78, wird aus ihrem Haus evakuiert. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

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