Berlin. Die „Zeitenwende“-Rede von Bundeskanzler Scholz ließ in Europa aufhorchen. Passiert ist seither nicht viel. Dabei drängt die Zeit.

Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar seine „Zeitenwende“-Rede hielt, ging ein Donnerhall durch Deutschland, der in ganz Europa zu hören war. Drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine sagte Scholz den Schlüsselsatz: „Im Kern geht es um die Frage, ob (. . .) wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus.“ Der Kanzler kündigte ein 100 Milliarden Euro umfassendes Sondervermögen für die Bundeswehr an.

Wehrhaftigkeit, Stärke, Einsatzbereitschaft: Diese Vokabeln hatte man lange nicht gehört. Zuvor war die Bundeswehr oft als Pleiten-Pech-und-Pannen-Verein karikiert worden. „Gewehre, die nicht schießen, Flugzeuge, die nicht fliegen, Schiffe, die nicht in See stechen“ – so oder ähnlich wurde die Truppe häufig verhohnepiepelt. Es war die Quittung für einen Kaputtsparkurs, der nach Ende des kalten Krieges von einer Bundesregierung zur nächsten weitergereicht wurde.

Der Bundeswehr fehlt Munition im Wert von 20 Milliarden Euro

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent © Reto Klar | Reto Klar

Leider hat sich nach Scholz‘ „Zeitenwende“-Weckruf nicht allzu viel bewegt. Zwar hat die Ampelkoalition nach anfänglichem Zögern schwere Waffen an die Ukraine und osteuropäische Nato-Partner geliefert. Die Lage zu Hause ist jedoch ernüchternd: Die Streitkräfte verwalten über weite Strecken nur noch den Mangel. So fehlt den Soldaten Munition im Wert von 20 Milliarden Euro. Ein Betrag, der im Sondervermögen der Bundeswehr nicht veranschlagt ist.

Die ersten Lieferungen, die Ende des Jahres aus dem Sondervermögen eintreffen, sind Bekleidung, Helme und Nachtsichtgeräte. Was hingegen Jahre auf sich warten lässt, sind „Puma“-Schützenpanzer, neue Hubschrauber oder Drohnenschutz, wie Heeresinspekteur Alfons Mais kürzlich beklagte.

„Angriffe auf Deutschland können potenziell ohne Vorwarnung erfolgen“

Dieser Leerstand ist bedrückend. Generalinspekteur Eberhard Zorn forderte jüngst in einem vertraulichen Papier einen Strategiewechsel der Streitkräfte. Die Bundeswehr müsse sich für einen drohenden Konflikt mit Russland schlagkräftiger aufstellen. „Angriffe auf Deutschland können potenziell ohne Vorwarnung und mit großer, gegebenenfalls sogar existenzieller, Schadenwirkung erfolgen“, lautete Zorns alarmierender Befund.

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Militärs und Politikexperten warnen schon lange, dass der Krieg in der Ukraine für den russischen Präsidenten Wladimir Putin nur die vordergründige Front ist. Er führe eine großangelegte Kampagne gegen den Westen, heißt es. Diese umfasse zum einen die Zerstörung der Ukraine als „Vorposten“ des Westens.

Nach der Ukraine-Invasion heißt die erste Priorität Landes- und Bündnisverteidigung

Zum anderen erstrecke sie sich auf die gesamte Palette des „hybriden Krieges“: Cyberattacken gegen politische, wirtschaftliche und militärische Ziele in EU- und Nato-Ländern, Desinformationsaktionen, politische Spaltung. Sollte Putin Schwäche wittern, würde er auch nicht zögern, über die Ukraine hinaus militärisch anzugreifen, mahnen Kremlkenner.

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Die Bundeswehr muss den Schalter möglichst schnell umlegen. Sie war jahrelang auf Auslandseinsätze ausgerichtet. Die Afghanistan-Mission endete in einem Fiasko. Es wird höchste Zeit, dass auch der Mali-Auftrag mit mehr als 1100 Soldaten auf den Prüfstand gestellt wird. Nach der Ukraine-Invasion muss die erste Priorität Landes- und Bündnisverteidigung heißen. Wehrhaftigkeit und Stärke im Nato-Verbund wirken abschreckend auf jeden potenziellen Aggressor.

Bereits im September hatte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) schallend angekündigt: Seine Größe und wirtschaftliche Kraft mache Deutschland „zur Führungsmacht, ob wir es wollen oder nicht – auch im Militärischen.“ In der Praxis ist dieser Anspruch noch nicht angekommen.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.