Berlin. Immer mehr Menschen steigen früher aus der Erwerbstätigkeit aus. Unternehmen warnen vor einer Verschärfung des Fachkräftemangels.

In der Regel gilt es, Binsen zu vermeiden. Doch zu ihren Eigenschaften gehört auch, dass Wahres an ihnen haftet. Daher der folgende Satz: Wer früher in Rente geht, hat mehr vom Ruhestand. Viele Menschen in Deutschland wählen diesen Schritt. Denn der Boom mit der sogenannten „Rente mit 63“ hält an. Zur Erinnerung: 2021 lag das durchschnittliche Renteneintrittsalter bei rund 64,1 Jahren.

Ende Juli gab es bereits 1,99 Millionen Frauen und Männer, die das Model „Rente mit 63“ in Anspruch genommen haben. Das geht aus neuen Zahlen der Deutschen Rentenversicherung vor. Demnach sind das bisher 400.000 mehr Senioren, als bei der Einführung 2014 erwartet worden war. Damals ging man von 200.000 Anträgen jährlich aus.

Rente mit 63: Höchster Anteil seit 2015

Gleichzeitig steigen die Kosten für die abschlagsfreie „Rente mit 63“ deutlich stärker als geplant. Allein im vergangenen Jahr haben 268.957 Neurentner den Weg in den Ruhestand ohne Abschläge genutzt. Das waren 26,3 Prozent aller neuen Renten und der höchste Anteil seit 2015. In der Folge sind auch die Ausgaben nach oben geklettert. Im Juli hat die Rentenkasse 3,4 Milliarden Euro allein für die „Rente mit 63“ ausgezahlt.

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Trotz des früheren Eintritts bekamen diese Neurentner 2021 im Westen im Durchschnitt 1644 Euro und im Osten 1350 Euro im Monat – aufgrund der vielen Beitragsjahre. Neurentnerinnen im Westen erhielten 1220 Euro und im Osten 1286 Euro netto pro Monat. Zum Vergleich: Im Schnitt kriegen neue Ruheständler 1218 Euro (Ost: 1141 Euro) und neue Ruheständlerinnen 809 Euro (Ost: 1070 Euro).

Ruhestand: Immer mehr Arbeitnehmer wollen früher in Rente gehen

Die „Rente mit 63“ steht seit Juli 2014 denjenigen offen, die mindestens 45 Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt haben. In diesen Fällen gibt es keine Abschläge. Das Eintrittsalter für die abschlagsfreie Rente mit 45 Beitragsjahren steigt jedoch an – für Versicherte ab Jahrgang 1964 liegt es inzwischen bei 65 Jahren. Wer sich eher aus der Arbeitswelt verabschiedet, muss Abstriche in Kauf nehmen.

Und der Anteil der Menschen, die früher in Rente gehen wollen, steigt. Das geht aus einer Umfrage des Demographie Netzwerks hervor, einer Kooperation von Unternehmen und Institutionen, die auf Initiative des Bundesarbeitsministeriums gegründet wurde. Demnach würden gerne mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer in Deutschland mit 62 Jahren oder früher mit der Erwerbsarbeit aufhören. Nur 10,7 Prozent wollen bis zum Alter von 67 oder darüber hinaus arbeiten.

Mittelstand: Warnung vor Verschärfung des Fachkräftemangels

Der Mittelstand leidet nach eigenen Aussagen unter dem früheren Renteneintritt besonders. „Schon jetzt sind kleinere und mittelgroße Unternehmen am stärksten vom Fachkräftemangel betroffen“, sagt Markus Jerger, Vorsitzender des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW) dieser Redaktion. Die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren ohne Abschlag im Alter von 63 in Rente gehen zu können, sei für die Betroffenen zwar sicher positiv, „verschlimmert den Mangel an qualifizierten Beschäftigten in den Betrieben aber weiter“.

Gleichzeitig kritisiert Jerger die dadurch entstehenden zusätzlichen Belastungen der Rentenkassen. „Im kommenden Jahr beträgt der Bundeszuschuss für die gesetzliche Rente bereits unfassbare 112 Milliarden Euro.“

„Es benötigt ein Umdenken der Personalverantwortlichen“

Der Mittelstand plädiert dafür, die Möglichkeiten, freiwillig über das bisherige Rentenalter hinaus tätig sein zu können, ganz generell zu verbessern. „Die zu Beginn des kommenden Jahres wegfallende Hinzuverdienstgrenze bei vorgezogenem Altersrentenbezug ist ein erster Weg, um den Verbleib im Arbeitsmarkt attraktiver zu gestalten.“

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Wichtig seien zudem flexible Arbeitszeitmodelle, mit dem sich die jeweiligen Bedürfnisse von Betrieben und Beschäftigten optimal aufeinander abstimmen lassen, sagt Jerger. Gleichzeitig brauche es auch eine Offenheit der Betriebe, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzustellen. Auch diese müssten eine Chance bekommen, ihre Erfahrungen und Qualifikationen einbringen zu können, mahnt der Mittelstandsverbandschef Jerger: „Da benötigt es in manchen Betrieben ebenfalls ein Umdenken der Personalverantwortlichen.“

Aktuelle Rentenaltersgrenze soll überprüft werden

Angesichts des Fachkräftemangels werden ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in etlichen Branchen gebraucht. Doch nicht nur speziell ausgebildete Erwerbstätige werden händeringend gesucht. Erst am Montag gab das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) eine Prognose ab, wonach bis 2035 sieben Millionen Arbeitskräfte in Deutschland fehlen könnten.

In der Deutschen Rentenversicherung gibt es deshalb Pläne, die aktuell gültige Rentenaltersgrenze im Jahr 2026 zu überprüfen. Eine Anhebung der Grenze ist jedoch nicht der einzige Weg, um der schrumpfenden Zahl von Arbeitskräften vorzubeugen. Auch mehr Zuwanderung, eine bessere Integration von Geflüchteten und eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen könnten die Lücken verkleinern.

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Immer wieder machen sich Arbeitgeberverbände für eine starke Anhebung des Renteneintrittsalters stark. So sagte etwa der Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf im Sommer dieser Redaktion: „Stufenweise werden wir auf das Renteneintrittsalter von 70 Jahren hochgehen müssen – auch weil das Lebensalter immer weiter steigt“. Gewerkschaftsvertreter lehnen dies jedoch ab.

Fraglich ist nur, wie lange sich Deutschland das noch leisten kann. (Mit Agenturen)

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Rente in Deutschland - Mit diesen Werten rechnet die Rentenversicherung 2022

 Monat (West)Ost
Bezugsgröße3.290 Euro (Monat)3.150 Euro (Monat)
Durchschnittsentgelt 2022 (vorläufig)3.242 Euro (Monat)3.111 Euro (Monat)
Rentenwerkt aktuell (von 01.07.21 bis 01.07.22)34,19 Euro33,47 Euro
Rentenwert Prognose (von 01.07.2022 - 01.07.2023)36,02 Euro35,52 Euro
Beitragssatz18,6 Prozent18,6 Prozent
Beitragsbemessungsgrenze7.050 Euro (Monat)6.750 Euro (Monat)

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