Berlin. Der Fachkräftemangel spitzt sich weiter zu. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat untersucht, wo die meisten Stellen offen bleiben.

Der Fachkräftemangel wird in immer mehr Branchen in Deutschland sicht- und spürbar. Seit der Corona-Pandemie findet etwa die Gastronomie kaum noch Personal, auch an den Flughäfen ist die Personalnot zu erleben. Doch es gibt Berufe, die noch viel schlimmer unter dem Fachkräftemangel leiden. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) lassen sich derzeit bundesweit mehr als eine halbe Million offene Stellen nicht besetzen, weil es an Fachkräften fehlt.

Im 12-Monats-Durchschnitt zwischen Juli 2021 und Juli 2022 würden laut der Studie, die unserer Redaktion vorliegt, über alle Berufe hinweg bundesweit 537.923 qualifizierte Arbeitskräfte fehlen. Die größte Fachkräftelücke gebe es in der Sozialarbeit.

Fachkräftemangel: Sozialarbeiter und Erzieher sind dringend gesucht

In diesem Bereich gebe es für 20.578 offene Stellen keine passend qualifizierten Arbeitslosen, die den Job übernehmen könnten – laut IW ein Rekordwert. „Diese Fachkräfte fehlen beispielsweise bei der Berufseinstiegsbegleitung, in der Schulsozialarbeit, in Jugend-, Kinder- und Altenheimen oder in der Suchtberatung, also überall dort, wo Menschen persönliche Begleitung für die Lösung sozialer Probleme benötigen“, schreiben die Ökonominnen und Studienautorinnen Helen Hickmann und Filiz Koneberg.

Ähnlich groß ist laut der IW-Erhebung auch die Lücke bei Erzieherinnen und Erziehern: 20.500 Erzieher-Stellen konnten demnach nicht besetzt werden. „Auch hier erreichte der Fachkräftemangel einen Rekordwert“, heißt es in der Studie. In der Altenfachpflege blieben demnach 18.279 Stellen unbesetzt, in der Bauelektrik 16.974 Stellen und in der Gesundheits- und Krankenpflege 16.839 Stellen.

Aber auch Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnikfirmen finden zunehmend kein Personal. Auch Informatiker, Physiotherapeuten, Kraftfahrzeugtechniker und Berufskraftfahrer werden demnach gesucht. Bei den Berufskraftfahrern rechnet das IW noch mit einer Verschärfung der Situation, da „die Beschäftigten überdurchschnittlich alt sind und es zudem an Nachwuchs fehlt“.

Geschlechtstypische Jobs besonders stark vom Fachkräftemangel betroffen

Laut den IW-Ökonominnen seien derzeit vor allem Berufe vom Fachkräftemangel betroffen, die oft sehr einseitig von einem Geschlecht besetzt würden. So seien in der Sozialarbeit 76,6 Prozent Frauen beschäftigt, in der Kindererziehung seien es sogar 86,7 Prozent. Bei Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnikfirmen sei der Frauenanteil mit 0,4 Prozent dagegen extrem gering, auch gebe es nur wenig Kraftfahrzeugtechnikerinnen (4,5 Prozent).

„Bei allen zehn Berufen handelt es sich also um typische Männer- oder Frauenberufe, in denen das jeweilige andere Geschlecht nur wenig vertreten ist“, heißt es in der Studie. Wolle man Geschlechterklischees bei der Berufswahl aufbrechen, müsse dies bereits bei der Berufsorientierung in der Schule beginnen, schlussfolgern die Autorinnen.

Wirtschaftsverbände sind unzufrieden mit Fachkräfteeinwanderungsgesetz

Kurzfristig wird das den Fachkräftemangel aber kaum beheben. Zwar hat die Bundesregierung 2019 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz verabschiedet, viele Wirtschaftsverbände sind aber zunehmend frustriert. Für mehr als jede zweite Firma stellt fehlendes Personal mittlerweile ein Geschäftsrisiko dar, ermittelte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) gerade erst in seiner aktuellen Konjunkturumfrage.

Der DIHK fordert daher, dass die derzeit vorausgesetzte vollständige Gleichwertigkeit der Berufsqualifikation künftig kein Kriterium mehr sein sollte. Auch bei einer teilweisen Gleichwertigkeit sollten Fachkräfte einreisen dürfen. Auch sollten die Anforderungen an die Sprachkenntnisse gelockert werden, schlägt der DIHK vor.

Gesamtmetall-Chef fordert neues Zuwanderungsgesetz

Stefan Wolf, Präsident des Metall- und Elektro-Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, fordert dagegen ein neues Zuwanderungsgesetz. „Wir brauchen ein qualifiziertes Zuwanderungsgesetz, wie es etwa Kanada hat. Den Zuwanderern muss man ein langfristiges Bleiberecht einräumen“, sagte Wolf unserer Redaktion.

Kanada nutzt ein Punktesystem für seine Einwanderung. Das Alter, der Berufsabschluss und ein konkretes Jobangebot bringen Anwärtern Punkten. Erst ab einer gewissen Punkteanzahl ist die Einreise möglich. Unumstritten ist das System, das das klassische Einwanderungsland bereits seit 1967 nutzt, nicht. Immer wieder kommt es zu Diskriminierungsvorwürfen.

Gesamtmetall-Chef Wolf verweist hingegen darauf, dass Kanada mit seinem Gesetz viele Probleme gelöst habe. „Wer zu uns kommt, braucht Absicherung und lebenslange Sicherheit. Voraussetzung dafür müssen die Qualifikation und die Sprache sein“, sagte Wolf. Kurzfristige Maßnahmen wie etwa das Anwerben von Gastarbeitern an Flughäfen lehnte der Gesamtmetall-Chef ab.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de