Brüssel. Die EU-Kommission will Vorschriften zur Luftreinhaltung drastisch verschärfen. Der Vorstoß kommt zur falschen Zeit, meint unser Autor.

Schlechte Luft ist in Teilen Europas noch immer ein Gesundheitsrisiko. In den vergangenen Jahren haben Deutschland und die anderen EU-Staaten zwar erhebliche und erfolgreiche Anstrengungen unternommen, um Schadstoffe wie Feinstaub und Stickoxide zu verringern. Doch ist die Luftbelastung vor allem in Großstädten weiterhin mitverantwortlich für viele Erkrankungen, besonders betroffen ist Osteuropa.

Die EU-Kommission spricht jetzt düster von über 300.000 vorzeitigen Todesfällen jährlich in Europa – auch wenn solche Zahlen nicht belastbar zu ermitteln und deshalb unter Experten umstritten sind, ist die Herausforderung doch offenkundig. Die Kommission hat also eigentlich viele Argumente auf ihrer Seite, wenn sie eine Verschärfung der 14 Jahre alten Luftreinhalte-Vorschriften plant.

Darum kommt der Vorstoß der EU-Kommission zum falschen Zeitpunkt

Trotzdem hätten Präsidentin von der Leyen und ihre Behörde mit diesem Vorstoß zur Halbierung der Grenzwerte entscheidender Schadstoffe wie Stickoxid und Feinstaub besser noch gewartet. Die Idee zum radikalen Ansatz stammt aus der Zeit vor Corona und Ukraine-Krieg, als die öffentliche Akzeptanz für neue Gesetzesauflagen und Verbote deutlich größer war. Zum jetzigen Zeitpunkt, in dieser Eile ist die Initiative verfehlt – die Mitgliedstaaten sollten im Gesetzgebungsverfahren besser auf die Bremse treten.

EU-Korrespondent Christian Kerl.
EU-Korrespondent Christian Kerl. © privat/Funke

Es gibt keinen Grund, warum die Brüsseler Behörde ausgerechnet jetzt eine Debatte um verschärfte Auflagen und neue Fahrverbote anzettelt, während der Kontinent unter den Lasten der Energiekrise, der seit dem Ukrainekrieg dramatisch verschlechterten Sicherheitslage, hoher Inflation und der nächsten Corona-Welle ächzt. Viele Haushalte und Unternehmen fürchten um ihre Existenz.

Da löst die Kommission mit derart strengen Umweltvorgaben unnötig zusätzliche Ängste aus – und provoziert den Eindruck, in Brüssel habe man den Ernst der wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht wirklich erkannt.

Der Verweis auf neue Standards der Weltgesundheitsorganisation rechtfertigt die Eile nicht. Die WHO hat ihre Empfehlungen erst vor einem Jahr drastisch verschärft und Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub festgelegt, die nach ihren eigenen Berechnungen für 99 Prozent der Weltbevölkerung nicht eingehalten werden. 99 Prozent – das relativiert den Handlungsdruck dann doch. Die Kommission möchte bei der Umsetzung solcher Standards wieder einmal mit gutem Beispiel vorangehen, muss jedoch aufpassen, dass ihr die Bürger in Europa noch folgen können.

Die Kommunen müssten in vielen Fällen vorbeugend Fahrverbote verhängen

Es genügt nicht, dass die Autoindustrie bei den neuesten Manövern wohl glimpflich davonkommt: Wenn die Kommission in zwei Wochen einen Entwurf für die neue Euro-7-Norm vorlegt, wird sie vorschlagen, die Emissionsgrenzwerte für neue Pkw wohl gar nicht oder nur leicht zu verschärfen. Die neuesten Pkw sind bereits vergleichsweise sehr schadstoffarm.

Das Problem ist, neben dem Feinstaub aus Kohle- und Kaminöfen, der Altbestand an weniger sauberen Fahrzeugen. Ein Problem, das sich mit der Zeit von allein lösen würde. Stattdessen will die Kommission nun die öffentliche Hand massiv unter Druck setzen.

Die Einhaltung der neuen Schadstoff-Grenzwerte sollen Bürger nach den Brüsseler Plänen erstmals direkt einklagen und bei Verstößen Schadenersatz für Gesundheitsschäden einfordern können. Sollte das wirklich so kommen, hätten die Kommunen kaum eine andere Wahl, als in vielen Fällen vorbeugend Fahrverbote in Innenstädten zu verhängen. Wenn dies das Ziel der Kommission ist, sollte sie es wenigstens offen sagen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de