Berlin . Putin hat die Durchhaltefähigkeit der Ukraine unterschätzt. Wie haben ihre Militärs die Gegenoffensive geschafft? Ein Erklärungsversuch.

Als der Ukraine-Krieg ausbricht, geben Militärexperten der Ukraine drei Tage. Nur drei Tage. Mehr an Durchhaltefähigkeit trauen sie dem Land nicht zu.

Christine Lambrecht (SPD) erzählt die Geschichte nebenbei, aber vor einem Fachpublikum. Süffisant gibt die Verteidigungsministerin vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zu Protokoll: Nicht nur sie – die militärische Seiteneinsteigerin – wird damals überrascht. Wie haben die Soldaten von Oberbefehlshaber Waleryj Saluschnyi das geschafft?

Lesen Sie auch: Waleryj Saluschnyj: Der General, der Putin, die Stirn bietet

Zwei Mal verblüffen die ukrainischen Streitkräfte Freund und Feind: Als sie im Frühjahr den Angriff auf Kiew abwehren und jetzt mit der Gegenoffensive im Nordosten. Geländegewinne von 2.000, 6.000 oder mehr Quadratkilometern sind eine große Verschiebung des Frontverlaufs und nach einem monatelangen Stellungskrieg wirklich bemerkenswert.

podcast-image

Vieles kommt zusammen: Ein kluger Angriffsplan, sträfliche Versäumnisse des Gegners und westliche Waffen. Der US-Militärexperte, der unter dem Pseudonym "Jomini of the West" den Ukraine-Krieg regelmäßig auf Twitter analysiert, hält es für die "erfolgreichste Gegenoffensive seit der "Operation Gazelle". So nannten die Israelis ihren Befreiungsschlag im Yom Kippur Krieg 1973.

Lesen Sie auch: Ukraine: Warum Experten diesem Blogger auf Twitter folgen

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Der Ukraine gelingt es, ihre offensichtlich beträchtlichen mobilen operativen Reserve zu verbergen – Soldaten, Waffen, Munition, Treibstoff –, die eine solche Initiative voraussetzt. Aber so unglaublich es klingt, die Gegenoffensive ist vorhersehbar. Man kann nicht mehrere Brigaden in Marsch setzen, ohne dass es auf Satellitenbildern auffällt. Jemand hat versagt: entweder der militärische Geheimdienst GRU oder die Generalität. Russische Blogger warnen Ende August vor einer Offensive in der Region. Einer von ihnen, Jewgeni Poddubny, sagt sogar Balaklija als Schwerpunkt voraus.

Gegenoffensive: Am Anfang steht ein "Täuschungsplan"

Der australische Ex-General und Fachautor Mick Ryan spricht von einem "guten Täuschungsplan". Viele Beobachter sind im Juli irritiert, als die Ukraine für den Herbst eine Großoffensive im Süden ankündigt. Es macht keinen Sinn, sich selbst den Überraschungseffekt zu nehmen. Allein, es führt dazu, dass die russische Armeeführung daraufhin eilends Truppen aus dem Norden und Osten in die Provinz Cherson verlegt.

Von Anfang an kann man das Dilemma der Kriegsparteien auf einen Nenner bringen: Die Ukraine hat Soldaten, aber nicht genug Waffen, die Russen Material, aber zu wenig Leute. Diese Schwäche nutzt Saluschnyj aus. Er verführt die Russen dazu, sich zu überdehnen. Als die Ukraine wie angekündigt im Raum Cherson zuschlägt – kein Scheinangriff –, halten die russischen Truppen Stand, dafür fehlen sie nun aber im Nordosten.

Gegenoffensive: Lob von höchster Stelle der Bundeswehr

Der Erfolg der Ukraine dürfte bald viele Mütter und Väter haben. Wie der ukrainische Politikwissenschaftler Oleksii Holobutskyi dem Portal "charter97" erzählt, ist der Vorstoß intern zunächst umstritten: Er gilt als zu riskant.

Letztlich gewinnt Generaloberst Oleksandr Syrskyi die Führung für einen schnellen Vorstoß. Wie die ukrainischen Soldaten vorgehen, wie ihre Teilstreitkräfte im Gefecht zusammenspielen, nötigt westlichen Spitzen-Militärs höchsten Respekt ab. Anders als die Russen könnten sie „in herausragender Weise“ agil operieren, lobt der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn. Nicht unwichtig ist die Führungsphilosophie: Die Russen treffen ihre Entscheidungen zentral, die Ukrainer delegieren sie und überlassen den Offizieren einen größeren Spielraum.

Er führt den Widerstand gegen die russischen Invasoren an: Ukraines Oberbefehlshaber Waleryj Saluschnyj.
Er führt den Widerstand gegen die russischen Invasoren an: Ukraines Oberbefehlshaber Waleryj Saluschnyj.

Die Schnelligkeit ist auch ausschlaggebend, weil in der Folge auf russischer Seite Panik ausbricht. Ihr Rückzug macht Sinn, um nicht eingekesselt zu werden, ist aber ungeordnet. Die Russen überlassen den vorrückenden Ukrainern Munition und schweres Gerät, sogar Panzer; es kommt nur darauf an, sich aus dem Staub zu machen. Nach unbestätigten Berichten bringt sich ein General vor seiner Mannschaft in Sicherheit – für die Kampfmoral ätzend. Es ist auch davon auszugehen, dass die Ukraine viele Gefangene macht. Das tut Kremlchef Wladimir Putin weh. Seinen Streitkräften fällt es schwer, Soldaten zu rekrutieren. Gut ausgebildete und motivierte Kämpfer fehlen.

Das erbeutete Material ist wichtig, da die Armee überwiegend mit Waffen aus sowjetischer oder russischer Produktion kämpft; und der Nachschub mit Ersatzteilen und Munition naturgemäß schwieriger wird. Auf Fotos und Videos machen Fachleute aber auch eine Vielzahl von westlichen Waffen ausfindig, die zum Einsatz kommen. Doch selbst für das amerikanische "Institute for the Study of War" sind sie nicht der zentrale Faktor. Das ist vielmehr "der kluge Angriffsplan des Generalstabs".

Auch wenn sich Präsident Wolodymyr Selenskyj schwere Panzer erhofft, so gerät in Vergessenheit, dass Deutschland gerade liefert, was die Ukraine braucht, um die eroberten Gebieten abzusichern und im Winter die Stellungen zu halten: Hilfe bei der Minenräumung, Geräte zur Stromerzeugung, Zelte und Decken sowie andere Ausrüstung.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Der Krieg tritt in eine neue Phase ein. Die Initiative geht auf die ukrainische Seite über. Im Süden kommen ihre Kräfte nur langsam voran, aber im Nordosten hat sie ihre Ausgangslage vor dem Wintereinbruch verbessert. Hier kann sie mit ihrer Artillerie fortan alle Eisenbahnlinien in den Donbass unterbinden, das wichtigste Transportmittel des Gegners.

Gegenoffensive: Warten auf eine unerwartete Reaktion Putins

Was kann die Ukraine aufhalten? Der frühere US-Generalleutnant Mark Hertling gibt drei Dinge zu bedenken: Tempo, Müdigkeit und "Schwarze Schwäne". Sie müssen ihren Vorstoß absichern, den Nachschub festigen, den Soldaten genug Pausen einräumen.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Eine seiner letzten Analysen schließt Mick Ryan militärisch knapp ab: "Der Krieg ist noch lange nicht vorbei, aber vielleicht wendet sich das Blatt, endlich." Weil die Russen in "echten Schwierigkeiten" seien, "sollten wir auch eine unerwartete Reaktion von Putin achten." Auf den schwarzen Schwan.

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.morgenpost.de.