Berlin . Der Angriff auf den Atommeiler Saporischschja könnte der Beginn einer neuen Eskalation im Ukraine-Krieg sein. Experten sind alarmiert.

Im Ukraine-Krieg können Kernkraftwerke zu einem besonderen Risiko werden. Nach dem Beschuss des Atommeilers in Saporischschja im Raum Enerhodar im Süden ist die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA "äußerst besorgt".

UN-Generalsekretär António Guterres nennt die Angriffe "selbstmörderisch". Russische Medien meldeten am Donnerstag, dass ein ukrainischer Angriff auf das Atomkraftwerk abgewehrt worden sei. Zudem will Russland offenbar den UN-Sicherheitsrat anrufen.

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Das Bundesamt für Strahlenschutz verfolgt die Lage nach eigenen Angaben "aufmerksam". In Salzgitter läuft seit Kriegsbeginn eine 24/7-Beobachtung – rund um die Uhr.

Es sieht keine akute Gefahr einer Freisetzung von radioaktiven Stoffen: "Die Messwerte vor Ort geben keinen Hinweis darauf." Es teile allerdings "die Sorge um einen dauerhaft sicheren Betrieb des AKW Saporischschja", erklärte das Amt unserer Redaktion.

Ukraine-Krieg: Saporischschja-Reaktor vom Netz genommen

Die Ukraine und Russland machen sich gegenseitig für die jüngsten Bombardements des russisch besetzten Kraftwerks verantwortlich. Nach Angaben der Kiewer Energiebehörde Energoatom wurden ein "Hilfsgebäude" und eine Stick- und Sauerstoffstation "schwer beschädigt". Ein Reaktor wurde daraufhin vom Netz genommen.

Saporischschja gilt als das größte Kernkraftwerk Europas und das neuntgrößte der Welt. Obwohl es unter russischer Militärkontrolle steht, wird es weiterhin von der regulären ukrainischen Belegschaft betrieben.

Guterres forderte für die IAEA Zugang zur Anlage. Dann könnten die unabhängigen Experten das ganze Ausmaß der Schäden sowie die Brand- und Strahlungsgefahr abschätzen. Quasi nebenbei würden sie zwei sensible militärische Gerüchte überprüfen:

  • Ob die Russen das AKW als Schutzschild für die eigene Artillerie nutzen; eine perfide Taktik, weil es für die Ukraine unverhältnismäßig erscheinen lässt, sich zu verteidigen und zurückzuschießen;
  • Ob das Kraftwerk oder zumindest das Gelände vermint ist.

Das wäre militärisch nicht unplausibel. Zum einen gingen die Russen schon beim Katastrophenmeiler Tschernobyl so vor. Sie bauten dort militärische Stellungen auf und hinterließen nach ihrem Abzug eine Schneise der Zerstörung – eine Strategie der verbrannten Erde.

Zum anderen kündigte die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Offensive in der Südukraine an. Kremlchef Wladimir Putin lässt bereits seine Truppen in der Region verstärken. Sobald die Verwaltungseinheiten (Oblaste) Luhansk und Donezk unter seiner Kontrolle sind, wäre nach einer vollständigen Eroberung des Donbass der Süden die nächstliegende Stoßrichtung. Gefechte um Saporischschja sind in diesem Szenario nahezu zwangsläufig.

Ukraine-Krieg: Gefechte um Kraftwerke wahrscheinlich

Die russischen Truppen haben ohnehin neben dem Meiler Saporischschja noch ein Wasserkraftwerk am Fluss Dnipro und mindestens zwei Kohlekraftwerke erobert. Die Kontrolle über das Stromnetz ist wichtig. Sie würde Putin in die Lage versetzen, in der Ukraine die Lichter auszuschalten und den (Energie-)Druck auf Westeuropa zu erhöhen.

Die Ukraine betreibt vier Atommeiler in Chmelnyzkyj, in Riwne, in Juschnoukrainsk und eben in Saporischschja. Fast unbemerkt ist der Staat, der mehr als 50 Prozent seines Bedarfs aus Atomkraft bezieht, im Zuge des Krieges zum Stromlieferanten avanciert. Da die heimische Produktion weitgehend stillsteht, kann die Ukraine Energie exportieren.

Fast 190 Millionen Jodtabletten auf Vorrat

Rumänien wird schon mit Strom beliefert. Zuletzt bereitete sich die Ukraine laut Selenskyj darauf vor, den Stromexport in der Europäischen Union zu erhöhen. "Unser Export erlaubt es uns nicht nur, Devisen einzunehmen, sondern auch unseren Partnern, dem russischen Energiedruck zu widerstehen", kündigte Selenskyj an.

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Das weiß auch Putin. Und es steht seinen Zielen entgegen. Der Angriff und die Übernahme von Reaktoren sei "ein taktisches Ziel des russischen Militärs", analysiert die Umweltschutz-Organisation Greenpeace. Mit der Kontrolle der Stromversorgung der Südukraine habe der Kreml "ein Druckmittel gegenüber der ukrainischen Regierung in der Hand”.

Das "besondere Augenmerk" des Bundesamts für Strahlenschutz gilt derzeit den beiden schon zu Kriegsbeginn besetzen Kraftwerken Tschernobyl und Saporischschja. In Salzgitter stehen sie im engen Austausch mit der IAEO und greifen auf Messdaten aus der Ukraine und auch benachbarten Ländern zurück.

Interaktiv: Karte der aktiven Atomkraftwerke weltweit.

In Deutschland wird automatisch eine Alarmmeldung ausgelöst, sobald der Radioaktivitätspegel an zwei benachbarten Messstellen einen Schwellenwert überschreitet. Auch die Spurenmessstelle auf dem Schauinsland bei Freiburg wird regelmäßig überwacht, genauso wie die Spurenmessstellen des Deutschen Wetterdienstes (DWD) und der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB). Bisher bewegen sich alle radiologischen Messwerte im normalen Bereich. Indes gibt es vor allem in Kampfgebieten weniger verfügbare Messdaten.

Im Notfall ist eine Frage entscheidend: Wie sich die radioaktiven Stoffe verbreiten. Kurzum: die Windrichtung. Laut Bundesamt bewegen sich die Luftmassen erfahrungsgemäß über das Jahr hinweg nur an etwa 60 Tagen im Jahr nach Deutschland (17 Prozent der Wetterlagen).

Die Notfallmaßnahmen würden sich "voraussichtlich auf die Landwirtschaft und die Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte beschränken", so das Amt. Wäre dann ein Importstopp für Lebensmittel aus der Ukraine fällig, ausgerechnet bei einem führenden Exporteur von Getreide? Dann würde sich die Nahrungsmittelkrise verschärfen; und zwar über eine längere Zeit. Laut Bundesamt haben die Bundesländer 189,5 Millionen Jodtabletten bevorratet, um sie in solch einem Notfall verteilen zu können – wenn der Wind aus der vermeintlich falschen Richtung weht.

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Dieser Artikel erschien zuerst auf www.morgenpost.de.