Kramatosk. Zwischen Raketenalarm,Trümmern und Alltag leben Kinder in der Ukraine in ständiger Bedrohung. Der Krieg hält seit fünf Monaten an.

Vor wenigen Wochen ist Sophia Onishenko nah am Tod vorbeigeschrammt. Am 2. Juli schlägt ein Artilleriegeschoss direkt neben dem Haus ein, in dem die 13-Jährige lebt. Es explodiert jedoch nicht. Ein Bild des Blindgängers hat sie auf ihrem Smartphone gespeichert. Als sie es zeigt, gibt sie sich erst ungerührt, wie Teenager eben sind, aber, ja, dieser Vorfall hat ihr große Angst gemacht, räumt sie ein.

Es gibt nicht mehr viele Kinder und Jugendliche in der Frontstadt Kramatorsk im Osten der Ukraine. Diejenigen, die geblieben sind, erleben einen Alltag, der vom Krieg geprägt ist.

Sophia hat heute Morgen wieder einmal bei der Essensausgabe an der Akademichna-Straße mitgearbeitet. Ehrenamtliche verteilen jeden Tag Monatsrationen an Menschen, die es nicht aus der Stadt herausgeschafft haben. Nur noch etwa ein Drittel der ursprünglich rund 160.000 Einwohner von Kramatorsk harren in der Stadt aus, die zu einem Symbol der Grausamkeit dieses Krieges wurde, als Anfang April zwei russische Raketen auf dem Bahnhof einschlugen und 57 Menschen töteten. Die meisten von ihnen waren Geflüchtete, die weiter Richtung Westen wollten.

Ukraine: Das Grollen der Geschütze ist zu hören, die Front ist nah

Die Front ist nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt. Das ferne Grollen der Artillerie ist häufig zu hören, regelmäßig heult der Luftalarm, immer wieder schlagen Geschosse ein. Vor einer Woche zerstörte eines die Schule Nummer 23. Sophia gibt sich aber betont lässig. Zu Beginn der Invasion hatte sie ihre Großmutter in einem Dorf nicht weit von Kramatorsk besucht. Dieses Dorf ist jetzt von den Russen besetzt. „Ich habe da so viel Beschuss erlebt, dagegen ist das hier so gut wie nichts.“

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Die 13-Jährige hilft bei der Essensausgabe an der Akademichna aus, weil ihre Mutter für die Hilfsorganisation arbeitet, die die Verteilung organisiert, und weil es ohnehin nichts anderes zu tun gibt. Die Schulen sind bereits seit Anfang des Krieges geschlossen, seit Wochen gibt es keinen Online-Unterricht mehr, weil Sommerferien sind. Sophia mag Sport.

Vor dem Krieg, erzählt sie, hat sie viele Orientierungsläufe gemacht, am liebsten in den Karpaten im Westen. Ihr zweites Hobby kann ihr der Ukraine-Krieg nicht nehmen. „Ich spiele sehr gerne Klavier. Klassische Musik.“ Die hilft ihr, sich von dem Wahnsinn abzulenken, der seit einem halben Jahr in ihrer Heimat tobt.

Ukraine: Drei Millionen Kinder brauchen Unterstützung

Seit Kriegsbeginn sind nach Angaben von Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen beinahe zwei Drittel aller ukrainischen Kinder zu Flüchtlingen geworden. Drei Millionen Kinder brauchen humanitäre Unterstützung. Mindestens 343 sind durch Waffengewalt gestorben. „Das sind aber nur die überprüften Fälle“, sagt eine Unicef-Sprecherin. Die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen. Unicef hat sich mittlerweile aus frontnahen Städten im Donbass wie Kramatorsk und dem benachbarten Slowjansk aus Sicherheitsgründen zurückgezogen.

Drei Jungs ohne Eltern helfen sich selbst

Zhenia, 14, Kirill, 14, und Ilya, 15, sind drei Jungs, die Menschen bräuchten, die sich um sie kümmern. Auf dem Parkplatz vor dem Arbat-Einkaufszentrum im Herzen von Kramatorsk putzen sie die Fenster von Autos, die meisten sind Militärfahrzeuge. Damit verdienen sie sich ein bisschen Geld, wenn es gut läuft, bekommen sie 50 Hrywnja, umgerechnet knapp 1,30 Euro. Zhenia, der Wortführer der Truppe, ein kleiner Junge mit raspelkurzen blonden Haaren und vor Dreck starrenden Klamotten, sagt, er unterstütze damit seine Eltern.

Als wieder einmal der Luftalarm gellt, interessiert es die drei Jungs nicht. „Ich habe keine Angst, das ist doch normal“, sagt Zhenia und lacht laut. Für die Russen und Putin haben die drei nur Schimpfworte übrig, die nicht druckbar sind. Klar gehen sie davon aus, dass die ukrainischen Soldaten siegen werden. Zhenia will auch Soldat werden. Ilya, ein hoch aufgeschossener Junge, der einen Fischerhut in Flecktarn trägt, hat einen anderen Berufswunsch. „Ich will Schweißer werden“, erzählt er, das sei sein Vater auch.

Ukraine: Geflohene Familie kehrte zurück

Ilya ist mit seiner Familie nach Polen geflohen, als der Krieg begann. Vor einigen Wochen sind sie aber wieder zurückgekommen. „Wir hatten kein Geld mehr, da mussten wir zurück.“

So wie Ilyas Familie ergeht es derzeit vielen Familien. „Vor zwei Monaten sind fast 200.000 Menschen aus der Region herausgebracht worden.“ Jetzt kehrten viele wieder zurück, weil manche Länder die Programme für ukrainische Flüchtlinge gestoppt hätten, erzählt Kateryna Onishchenko. Sie ist die Mutter von Sophia. An diesem Nachmittag hat ihre Organisation eine Lebensmittelverteilaktion in Mongolia, einem dörflichen Stadtteil von Slowjansk nördlich von Kramatorsk organisiert. Slowjansk liegt noch näher an den von den Russen kontrollierten Gebieten.

Wenn sie Essen verteilen, dann haben sie oft Eis oder Luftballons für die Kinder dabei. „Die Kinder wissen genau, was passiert. Sie sehen ja Nachrichten, und sie hören die Bomben einschlagen. Wenn sie mit ihren Eltern zusammen sind, fühlen sie sich aber sicher“, glaubt Onishchenko.

Russland-Krieg: Pizza für die Kinderseelen

Welchen Schaden der Russlands Krieg an den Kinderseelen anrichtet, das könne sie nicht einschätzen, sagt sie. Aber natürlich bräuchten sie Ablenkung von dem Horror. „Wir laden deswegen mittwochs und sonntags Kinder in unser Zentrum in Kramatorsk ein, da können sie Filme sehen, Pizza essen oder malen.“

Anstehen vor einer Essenverteilung: Timofey (5) und sein Vater Anatoly in Slowjansk.
Anstehen vor einer Essenverteilung: Timofey (5) und sein Vater Anatoly in Slowjansk. © Funke Foto Service | Reto Klar

Auch Anatoly und Victoria Dobronos versuchen ihren Sohn Timofey (5) vom Krieg abzulenken. Die Familie ist heute zu der Essensverteilung in Slowjansk gekommen und steht mit Hunderten anderer Menschen geduldig an. Keiner reagiert, als die Sirenen wieder einmal heulen.

Ukraine-Krieg: „Mama, du brauchst keine Angst zu haben“, sagt der Kleine

Die Dobronos sind zu arm, um zu fliehen. Vater Anatoly war vor dem Krieg Taxifahrer, jetzt ist er arbeitslos. „Mit unserem Garten können wir uns wenigstens ein bisschen selbst versorgen“, sagt der Vater. „Wir spielen viel mit Timofey und versuchen ihm zu erklären, was Krieg ist“, erzählt die Mutter, und dass ihr Junge ein mutiges Kind sei.

Wenn die Explosionen zu hören sind, dann sage Timofey manchmal zu ihr: „Mama, du brauchst keine Angst zu haben.“ Als sie das sagt, lächelt der Kleine verlegen. Seit dem Beginn des Kriegs schläft er mit seinen Eltern im Keller ihres Hauses.

Anastasia Tokar aus Kramatorsk im Keller ihres Hauses mit Ihren Kindern Timofey (7) und Arina (9). Sie schlafen hier unten, um bei Luftalarm in Sicherheit zu sein.
Anastasia Tokar aus Kramatorsk im Keller ihres Hauses mit Ihren Kindern Timofey (7) und Arina (9). Sie schlafen hier unten, um bei Luftalarm in Sicherheit zu sein. © Funke Foto Service | Reto Klar

Auch die Tokars verbringen die Nächte im feuchten Keller ihres zweistöckigen, in die Jahre gekommenen Wohnblocks in der Siedlung Yasnogorskiy nahe Kramatorsk. Auf dem Lehmboden liegen Holzpaletten, die Decken auf den provisorischen Betten sind klamm, in einer Ecke stehen gefüllte Einmachgläser. Die Gegend hier ist besonders gefährlich. Mutter Anastasia deutet auf Schornsteine, die in etwa einem Kilometer Entfernung zu sehen sind. „Die Fabrik ist vor zwei Monaten sehr heftig bombardiert worden.“

„Wenn sie anfangen zu schießen, renne ich in den Keller“

Bis heute gebe es jede Nacht Angriffe. Am Anfang des Krieges seien sie noch aus der Wohnung heruntergerannt. „Aber jetzt schlafen wir grundsätzlich hier, weil ich den Schlaf meiner Kinder nicht stören will.“ Ihr siebenjähriger Sohn Timofey sagt, „wenn sie anfangen zu schießen, dann renne ich in den Keller“. Hier unten hat er keine Angst. Seine Schwester Arina (9) und er schlafen in ihrer Kleidung, immer einen Notfallsack griffbereit, mit einer Lampe, falls sie den Keller verlassen müssen.

Tagsüber spielen sie mit den anderen Kindern in der Siedlung. Ein gutes Dutzend lebt noch hier mit den Eltern. „Wir sind 2014 vor den Kämpfen im Donbass geflohen“, sagt Mutter Anastasia. „Wir wollten nicht mehr fliehen.“ Timofey bastelt gerne, er zeigt stolz ein Kunstwerk, da hat er Menschen ausgeschnitten, die sich an den Händen halten: „Das ist ein Friedensbild.“ Der Krieg sagt seine Mutter, habe ihre Kinder nervöser werden lassen. Und sie würden schneller erwachsen. „Sie haben ja keine richtige Kindheit.“

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.