Berlin. Drei Monate nach Beginn der Invasion weist die westliche Front Risse auf. Gibt es eine “gesichtswahrende Lösung“ für den Kremlchef?

Nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine zeigte der Westen eine nie dagewesene Geschlossenheit. Die EU und die G7-Industriestaaten legten harsche Sanktionspakete auf. Viele Länder lieferten Waffen an die Ukraine. Die Nato sandte Signale der Entschlossenheit und Verteidigungsbereitschaft Richtung Moskau.

Doch gut drei Monate nach dem Einmarsch sind Risse in der westlichen Front zu sehen. Die Kriegs- und Friedensziele sind unscharf und nebulös. Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Davos-Rede bekräftigt: „Putin darf seinen Krieg nicht gewinnen.“ Lesen Sie auch: Scholz in Davos: „Putin darf seinen Krieg nicht gewinnen“

Was er damit genau meint, hat Scholz nicht gesagt. Bedeutet ein Nicht-Sieg des Kremlchefs, dass die russischen Truppen das gesamte Territorium der Ukraine verlassen? Oder heißt das, dass sie auf der annektierten Krim und in den von Moskau anerkannten Volkrepubliken Luhansk und Donezk bleiben können?

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent.
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent. © Reto Klar | Reto Klar

USA erwägen Lieferung von Mehrfach-Raketenwerfern an die Ukraine

Auch US-Präsident Joe Biden lässt Klarheit vermissen. Einerseits greifen die Amerikaner der Ukraine militärisch unter die Arme wie sonst keiner. Nun erwägt Washington sogar die Lieferung von Mehrfach-Raketenwerfern mit einer Reichweite von mehreren Hundert Kilometern. Es wäre eine deutliche Stärkung der ukrainischen Verbände, die derzeit im Donbass schwer in Bedrängnis geraten. Lesen Sie dazu: Ukraine-Krieg: Welches Ziel verfolgt US-Präsident Biden?

Andererseits zieht Biden aber auch Grenzen des militärischen Engagements. So, wie er zu Beginn des Angriffs eine Flugverbotszone über der Ukraine abgelehnt hat, weist er die Option einer direkten Konfrontation zwischen den USA und Russland mit der Begründung zurück: „Das nennt man den dritten Weltkrieg.“

Amerikanische Nato-Botschafterin: Russland eine „strategische Niederlage“ zufügen

Dennoch deutet alles darauf hin, dass die amerikanische Regierung Moskau einen militärischen Schlag und damit einen politischen Denkzettel verpassen will. Verteidigungsminister Lloyd Austin ließ Ende April mit der Bemerkung aufhorchen: Russland müsse geschwächt aus dem Ukraine-Krieg hervorgehen, damit es künftig davon abgehalten werde, Nachbarn zu überfallen. Die US-Botschafterin bei der Nato, Julianne Smith, betonte, Russland müsse eine „strategische Niederlage“ beigebracht werden.

Dieser Ansatz ist richtig. Der Westen muss die Ukraine militärisch so ausstatten, dass sie Putins Eroberungsfeldzug standhalten kann. Ihre Bürger kämpfen für den Aufbau einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft und die Werte, die in Berlin, Paris oder New York gefeiert werden. Ließe man sie im Stich, würde sich der Westen als Gemeinschaft der Heuchler entlarven. Es wäre eine moralische Bankrotterklärung.

Nach den Kriegsverbrechen von Butscha und Mariupol gibt es keine „gesichtswahrende Lösung“

Eine gesichtswahrende Lösung für Putin, wie sie von einigen in der deutschen oder französischen Regierung wird, ist eine Fehlkalkulation. Nach den Kriegsverbrechen von Butscha, Borodjanka oder Mariupol wäre „Gesichtswahrung“ reiner Zynismus. Lesen Sie auch: Junger Kriegsverbrecher verurteilt: Kommt er bald frei?

Putin wird erst verhandeln, wenn er militärisch nichts mehr gewinnen kann. Solange seine Truppen vorrücken, wird er seinen Zerstörungsfeldzug fortsetzen. Der Mann, der einst den Zusammenbruch der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hatte, würde es nicht bei der Eroberung der Ukraine belassen.

Sieht sich Putin völlig in die Ecke gedrängt, ist ein Einsatz von Atomwaffen nicht auszuschließen

Zur Wahrheit gehört aber auch: Es ist nicht Aufgabe des Westens, auf einen Regime-Wechsel in Moskau hinzuarbeiten. Auch wäre eine direkte militärische Einmischung der Nato in der Ukraine kontraproduktiv. Sähe sich Putin völlig in die Ecke gedrängt, ist nicht auszuschließen, dass er sein Heil in der Eskalation sucht und etwa taktische Atomwaffen einsetzt.

Der Krieg würde außer Kontrolle geraten. Daher gilt: Der Ukraine Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Den Druck auf Moskau hochhalten, ohne Maximal-Optionen anzustreben.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.