Washington. Im Ukraine-Krieg ist kein wirkliches Ende in Sicht. Auch die USA kommen in die Bredouille. Welches Ziel verfolgt US-Präsident Biden?

Es ist alles so einfach, wenn man bald 99 wird und Heinz Alfred Kissinger heißt. Amerikas außenpolitisches Urgestein, besser bekannt unter „Henry" und zu Betriebszeiten persönlich für so manche Schandtat auf dem Planeten mitverantwortlich, hat sich gerade mit einem Zwischenruf in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingemischt, der Präsident Joe Biden in die Bredouille bringt. Weil er eine gähnende Leerstelle aufzeigt.

Kissingers Botschaft, gesendet über das Weltwirtschaftsforum Davos, lautet zwischen den Zeilen: Amerika muss Kiew gegenüber Moskau in Friedensverhandlungen zu dauerhaften territorialen Zugeständnissen im Donbass wie auf der Krim bewegen. Und darauf verzichten, Russland, das seit 400 Jahren ein bestimmender Faktor in Europa sei, weiter auszugrenzen, zu demütigen und so in die Arme Chinas zu treiben. Unterlässt man das, so doziert der frühere Außenminister, wächst das Risiko, dass der Krieg ausartet und eine globale Katastrophe auslöst. Lesen Sie auch: Scholz in Davos: „Putin darf seinen Krieg nicht gewinnen“

Indirekt bemängelt Kissinger die harten Töne, die bisher aus Washington in Richtung Moskau gesendet wurden. Kurz nach Beginn der Invasion hatte Biden Putin einen „Kriegsverbrecher” genannt und ihm „Völkermord” vorgeworfen. In Warschau sagte er im März über den Kreml-Chef: „Dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.” Später formulierte sein Verteidigungsminister Lloyd Austin Amerikas Ziel so: Russland müsse dauerhaft so geschwächt werden, dass es keinen weiteren Angriff auf Nachbarstaaten wagen könne.

Ukraine-Krieg: Pentagon soll Lieferung von Hochleistungs-Raketenwerfern erwägen

Der Ratschlag des gebürtigen Fürthers Kissinger stößt in Washington bisher nicht auf Zustimmung. Im Gegenteil. Sämtliche Aktionen des Weißen Hauses und weiter Teile des Kongresses, von Waffen-Lieferungen und anderweitiger Militärhilfe im Volumen von mittlerweile fast 60 Milliarden Dollar bis hin zu Märkte bewegenden Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und Finanzarchitektur, sind drei Monate nach Kriegsbeginn immer noch auf einen etwaigen ukrainischen Sieg hin ausgerichtet. Und auf eine Macht-Demonstration in Richtung Peking, ja nicht auf dumme Taiwan-Gedanken zu kommen.

Dazu passt ganz frisch die noch unbestätigte Medien-Meldung, wonach das Pentagon die Lieferung von MLRS und HIMARS nach Kiew erwägen soll. Darunter sind Hochleistungs-Raketenwerfer zu verstehen, die ihre tödliche Fracht potenziell über Hunderte Kilometer Entfernung abladen können. Sprich weit ins russische Territorium hinein. Schwerere Waffen gibt’s kaum. Lesen Sie auch: Russland ändert Kriegstaktik: Was steckt dahinter?

Lesart von Militär-Analysten an der Akademie in Annapolis/Maryland: „Biden will Putin in die Knie zwingen.” Also genau das, wovor Kissinger und ein kleiner, allmählich lauter werdender Chor außenpolitischer Star-Tenöre warnen.

Sie eint der Vorstoß, beizeiten mit der Ukraine und Russland öffentlich zu debattieren, wie das Töten, Sterben und Zerstören im Puffer-Staat zwischen West und Ost beendet werden könnte.

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Ist ein militärischer Sieg der Ukraine unrealistisch?

Beim Commander-in-Chief, so konstatierte gerade erst in einem bemerkenswert kritischen Kommentar die „New York Times”, herrsche an dieser Stelle über den Status quo hinaus gefährliches Schweigen.

Die Sachlage in Stichworten: Seit Kriegsbeginn hat die US-geführte Allianz des Westens klar gemacht, dass es keine Bodentruppen, keine No-Fly-Zone und keinen direkter Kontakt mit russischem Militär geben wird. Stattdessen mit wachsender Intensität: Waffenlieferungen, Geheimdienstliche Erkenntnisse, Ausbildung ukrainischer Soldaten an Nato-Waffensystemen plus diplomatische und ökonomische Isolation Russlands.

Die Resultate sind unverkennbar. Putins Kalkül eines schnellen Sieges ist geplatzt. Mehr noch. Angespornt auch durch westliche Strategen, sieht die Ukraine die reale Chance, den auf dem Papier übermächtigen Gegner zu schlagen und die Geschichte zurückzudrehen; trotz aktuell erheblicher Geländegewinne Russlands im Osten.

In diesen Wein gießt die New York Times eiskaltes Wasser: „Ein entschiedener militärischer Sieg der Ukraine über Russland, bei dem sie alle seit 2014 verlorenen Gebiete zurückerobert, ist kein realistisches Ziel.”

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Das Weiße Haus redet nicht über ein Kriegsende mit annehmbaren Bedingungen für beide Seiten

Was denn dann? Unter welchen gleichermaßen für die Ukraine und Präsident Selenskyj wie für Wladimir Putin annehmbaren Bedingungen ein Kriegsende eingeleitet werden könnte, darüber redet das Weiße Haus öffentlich nicht.

Muss Russland alle Territorial-Gewinne der vergangenen Monate aufgeben und sich militärisch komplett zurückziehen? Müssen auch die von Russland seit 2014 besetzten Gebiete im Donbass wie auf der Krim-Halbinsel zurückgegeben werden? Welche Sicherheits-Garantien des Westens unterhalb eines ausgeschlossenen Nato-Beitritts könnten Kiew zufriedenstellen? Auch interessant: Ukraine-Krieg: Helfer bringen Kämpfern Gewehre und Helme

Analysten bei Republikanern wie Demokraten konstatieren, dass die Solidarität in den USA mit der Ukraine bereits brüchig geworden ist. Rund 60 republikanische Abgeordnete und Senatoren versagten dem jüngsten Mega-Hilfspakets Bidens von 40 Milliarden Dollar ihre Zustimmung.

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USA: Die Solidarität mit der Ukraine wird brüchig

Die hohe Inflation, steigende Energie- und Lebensmittelpreise und eine reale Rezessions-Gefahr noch in diesem Jahr „könnten die Unterstützung in der amerikanischen Bevölkerung für die Ukraine-Hilfe weiter erodieren lassen”, sagt der Berater eines demokratischen Senators.

Einflussreiche Experten wie der außenpolitische Thinktank-Doyen Richard Haas betonen, dass die Ukraine jedes Recht habe, ihre Ziele zu definieren. Gleichermaßen hätten die USA das Recht, gemeinsam mit den westlichen Partnern, zu bestimmen, wo die Grenze der Hilfe in einer bereits fortgeschrittenen De-Facto-Konfrontation mit der Atom-Supermacht Russland liegt. Dazu gehöre auch die Frage, ab welchem Zeitpunkt die Sanktionen des Westens gegen Russland ganz oder teilweise aufzuheben wären.

Charles Kupchan, Professor für internationale Angelegenheiten an der Georgetown Universität in Washington und in Europa aufmerksam gehörte Stimme, hält es für unabdingbar, dass Präsident Biden in der Ukraine auf einen Waffenstillstand samt Verhandlungsfrieden drängt. Russland, so seine These, sei auch in einem neuen Kalten Krieg zu wichtig, als dass man sich erlauben könne, die Supermacht bei Themen wie Rüstungskontrolle, Klimawandel und Cyber-Sicherheit auszugrenzen.

Ukraine-Krieg: Patt-Situation laut US-Regierungsberatern keine Lösung

Einig sind sich manche Regierungsberater, dass eine Patt-Situation, die Russland und die Ukraine auf den Stand vor dem Angriff Moskaus im Februar einfriert, keine echte Lösung sein könne. Weil der Konflikt a) wieder aufbrechen könnte und b) die vielen Kriegsbrechen Russlands (Stichwort: Butscha) dabei voraussichtlich unter den Tisch fielen. Biden hat sich auch dazu noch nicht geäußert. Lesen Sie auch: Ukraine-Krieg: Selenskyj fordert Milliarden für Wiederaufbau

Für die Partner Amerikas wächst der Zeitdruck. Schon im Herbst, wenn die Republikaner die Kongresswahlen gewinnen können, würden die Stimmen lauter, die eine Konzentration aller Finanz- und Strategie-Mittel auf den Langfrist-Gegner China fordern. Was mit der sehr nach Donald Trump klingenden Erwartung verbunden sein würde, dass Europa für die Sicherheit vor seine Haustür selber sorgen muss.

Auch darum bürstete der ukrainische Präsident Selenskyj den Vorschlag Kissingers brutal ab, die Ukraine könne ein Stück Land gegen Frieden mit Russland eintauschen. Sein Eindruck sei, dass Henry Kissinger im Jahr 1938 lebe. Damals gaben London und Paris Hitler grünes Licht, um das tschechische Sudetenland zu besetzen. Die „einfachen Menschen” in der Ukraine wollten ihr Land nicht gegen „eine Illusion von Frieden” eintauschen, sagt Selenskyj. Aber was will Joe Biden?

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de.