Berlin/Nürnberg. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge war 2015 und 2016 überfordert. Jetzt stellt es sich neu auf – mit viel technischer Hilfe.

Wenn Hans-Eckhard Sommer aus seinem Büro vor eine Kamera oder ein Mikrofon tritt, hat er meistens zwei Botschaften: Erstens, alles wieder unter Kontrolle. Zweitens, die Angestellten trügen die geringste Schuld am Zustand der Behörde in den vergangenen Jahren.

Seit einem halben Jahr ist Sommer der neue Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – kurz Bamf. Sommer stellt sich vor seine Mitarbeiter, wirbt für eine zweite Chance für seine Behörde. Das kommt im eigenen Haus gut an.

Sommer leckt Wunden.

Als Hans-Eckhard Sommer übernahm, lag das Amt am Boden

Als der Münsteraner im Juni das Amt übernahm, lag die Behörde am Boden. Seit 2015 war das Bamf überfordert mit der Registrierung von Asylsuchenden, mehrfach kam es zu schweren Fehlern und Pannen.

Dann auch noch zum Vorwurf des Betrugs in der Außenstelle Bremen. Jutta Cordt musste gehen. Es kam Hans-Eckhard Sommer, Jurist, CSU-Mitglied. Im August hätte er eigentlich Chef des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführungen werden sollen.

Doch Horst Seehofer holte ihn zum Bamf. Ein erstes Ziel erreichte der Innenminister damit: Mehr Ruhe ist seitdem zurückgekehrt in die Behörde. Aber gelingt der Neustart?

Personalrat hat wenig zu kritisieren

Hans-Eckhard Sommer, Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Hans-Eckhard Sommer, Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). © picture alliance/dpa | dpa Picture-Alliance / Matthias Balk

Wer mit Bamf-Mitarbeitern spricht, hört viel Lob: Der neue Chef besuche die Außenstellen, er kümmere sich um die Entfristungen von Angestellten, zuletzt rund 600. Und Sommer verstehe, dass über ein Grundrecht manchmal nur in stundenlangen Befragungen entschieden werden könne. Nicht im Akkord.

Und weil viele Asyl-Entscheider in den Krisenjahren im Akkord entscheiden mussten, fielen Schulungen und Fortbildungen aus. Unter Druck passierten Fehler. Auch das ändere sich nun. „Das Bamf ist auf dem richtigen Kurs“, sagt CSU-Innenexpertin Andrea Lindholz. Sogar der Personalrat hat wenig zu kritisieren.

Sommer hat es einfacher als seine Vorgänger. Die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die nach Deutschland kommen, ist deutlich gesunken. Dennoch bleiben die Herausforderungen enorm.

Bei Abschiebungen stärker einschalten

Bis 2020 muss die Behörde allein knapp 800.000 Entscheide prüfen, so sieht es das Gesetz vor. Sommer setzt sich dafür ein, dass der Bund die Frist für diese Regelüberprüfungen um zwei Jahre verlängert. Zugleich muss das Amt die Integrationskurse verbessern. Zu viele Geflüchtete brechen die Kurse ab, oftmals ist das Personal schlecht bezahlt oder wenig qualifiziert.

Und die Behörde will sich bei Abschiebungen stärker einschalten. Das Bamf soll nach Plänen des Innenministeriums künftig mehr Verantwortung bei der Beschaffung von Passersatz-Papieren übernehmen.

Sogar ein bundesweites „Abschieberegister“ mit allen Informationen zu Menschen, die raus aus Deutschland sollen, will das Ministerium im Amt ansiedeln. Offenbar traut Seehofer seinem neuen Behördenleiter viel zu.

„Teil der deutschen Sicherheitsarchitektur“

Mit der Krise will sich ein Amt neu erfinden. Geht es nach der Behördenspitze, soll das Bamf ein Kompetenzzentrum für Migration sein, Integrationsförderer, Abschiebehelfer – und auch Sicherheitsbehörde.

„Das BAMF ist mittelbar Teil der deutschen Sicherheitsarchitektur“, sagt Vizepräsident Markus Richter im Gespräch mit unserer Redaktion. Er sieht das Amt als ersten Sicherheitscheck, noch vor Verfassungsschutz und Polizei.

„Wir reden mit jedem Schutzsuchenden, der einen Asylantrag stellt“, sagt Richter. Nach den Asyl-Anhörungen würden „sicherheitsrelevante Auffälligkeiten“ an die zuständigen Behörden weitergegeben – laut Gesetz auch an den deutschen Inlandsgeheimdienst.

Der Verfassungsschutz hat ein Büro beim Bamf

Im Bamf gibt es ein eigenes Referat für Sicherheit, auch frühere Kriminalbeamte arbeiten dort. Verfassungsschützer haben ein eigenes Büro in der Nürnberger Zentrale. Bamf-Chef Sommer betont auch intern den engen Kontakt seiner Behörde zu den Nachrichtendiensten.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist eine deutsche Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern (BMI).
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist eine deutsche Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern (BMI). © imago/Revierfoto | imago stock

Den Weg zu einem neuen Bamf will die Amtsspitze vor allem digital gehen. In den vergangenen Jahren hat die Behörde unter Richters Leitung Assistenzsysteme aufgebaut. Sie sollen Mitarbeitern bei der Bewertung helfen, ob ein Mensch in Deutschland Schutz finden kann oder nicht. Computer erkennen Dialekte, werten Handys von Flüchtlingen aus, erheben biometrische Daten.

Die IT soll die Identität der Asylsuchenden erkennen. Denn laut Bamf kommen 60 Prozent aller Schutzsuchenden ohne Ausweispapiere hier an.

In knapp mehr als einem Jahr 27.000 Handys ausgelesen

Fast 2000 Mitarbeiter sind im Asylverfahrenssekretariat des Bamf tätig. Seit September 2017 haben sie rund 27.000 Handys ausgelesen, wenn der Asylsuchende sich selbst nicht ausweisen konnte. Ein hauseigener Jurist prüft laut Bamf die Handy-Analyse in jedem Einzelfall.

„Wir vergleichen, ob auf dem Mobilgerät gefundene Lokationsdaten zu Angaben zum Herkunftsland passen“, sagt Richter. Hat das Handy Positionsdaten etwa aus Syrien oder Afghanistan gespeichert? Oder doch aus Marokko?

„Wir werten aus, welche Sprache die Person in ihren Chats benutzt oder in welche Länder sie telefoniert. Gibt die Person zum Beispiel an, dass sie aus Syrien kommt, sind regelmäßige Anrufe dahin ein Indiz für die Richtigkeit ihrer Angabe.“

Programm erkennt arabische Dialekte

Mehr als 19.000 Mal hat das Bamf zudem den Dialekt eines Geflüchteten ausgewertet, um Rückschlüsse auf die Herkunft zu ziehen. Der Asylsuchende liest dabei einige vorgefertigte Sätze vor, eine Software nimmt das auf und analysiert die Sprache.

Fünf verschiedene arabische Dialekte erkennt das Programm bisher – etwa ob ein Flüchtling aus Syrien oder Irak kommt. Für einige Tausend Euro hat das Bamf dafür extra Sprach-Samples von amerikanischen Universitäten eingekauft.

Internationaler Besuch – man will die Technik kennenlernen

Die Genauigkeit liegt laut Bamf bei 85 Prozent. Bei knapp einem Fünftel der Analysen macht die Software Fehler. Das will die Behörde durch Tests von Sprachexperten herausgefunden haben. Früher analysierten ausschließlich Gutachter die Sprache eines Flüchtlings. Die Experten setzt das Bamf nun deutlich seltener ein. 2016 gab das Amt noch knapp 800 Sprachgutachten in Auftrag, 2017 noch mehr als 600. 2018 waren es bis Ende November nur 125.

Im Bundesinnenministerium nennt ein ranghoher Mitarbeiter das Bamf schon ein Vorbild für die digitalisierte Behörde. In der Nürnberger Zentrale ist die Leitung stolz, dass Beamte aus Frankreich oder England zu Besuch kommen und die Assistenzsysteme anschauen. Wird die „Chaos-Behörde“ zum „Vorzeige-Amt“?

Darf ein Computer über Grundrecht mitentscheiden?

Nicht allen im Bamf gefällt der Sicherheitskurs der Behörde. Manch alteingesessener Entscheider hadert mit der Verzahnung des Bamf etwa mit dem Verfassungsschutz. Und die Digitaloffensive birgt Risiken.

Seit 2015 sind nach Kenntnis der Sicherheitsbehörden auch etliche Terroristen getarnt als Flüchtlinge nach Europa eingereist. Die Anschläge von Paris im November 2015 waren von Syrien aus organisiert, einzelne Attentäter der Gruppe kamen über Griechenland und den Balkan nach Frankreich.

Was, wenn die Bamf-Software im entscheidenden Moment falschliegt? Und ist es richtig, einen Computer über ein Grundrecht mitentscheiden zu lassen? „Ich halte das für unseriös“, sagt Grünen-Politikerin Louise Amtsberg. Die Innenexpertin verweist auf die Fehlerquote, die zu hoch sei.

Wer die Technik kennt, kann sie im Zweifel auch missbrauchen

Stattdessen setzen die Grünen auf Verfahrensberater. Sie sollen Flüchtlinge auf ihre Anhörung beim Bamf vorbereiten. Persönliche Gespräche können laut Amtsberg Missverständnissen, Fehlern, aber auch Täuschung vorbeugen. Denn wer die Technik kennt, kann sie nutzen. Das gilt auch für Schleusergruppen und Terroristen.

„Wir wissen, dass in Deutschland und Europa Schleusernetzwerke auf unsere Kontrollen reagieren“, sagt Vizepräsident Richter. Das Amt habe Handys entdeckt, die bewusst für das Asylverfahren manipuliert wurden, etwa mit Fotos aus Syrien. Mehrfach entdeckten Bamf-Mitarbeiter komplett identische Datensätze auf Mobiltelefonen.

„Offenbar gibt es einen Markt für solche Geräte, mit denen die Antragsteller durch das Asylverfahren kommen wollen“, sagt Richter.

Es gibt auch Misstrauen gegenüber der neuen digitalen Welt

Nicht wenige Asyl-Entscheider würden alten Methoden mehr vertrauen als neuer Technik, erzählt ein erfahrener Bamf-Mitarbeiter. Interne Dokumentationen über den Einsatz der Assistenzsysteme, das sogenannte IDM-S-Monitoring, zeigen zudem, dass Dialekt-Software und Handy-Auswertung in manchen Außenstellen in der Praxis kaum zum Einsatz kommen.

Das Bamf erklärt das damit, dass in manchen Dienststellen keine Flüchtlinge aus arabischen Ländern in Interviews sitzen. Die Führung der Asylbehörde um Sommer und Richter erneuert viel, probiert aus, bindet Mitarbeiter dabei ein – und doch steckt sie in einem Dilemma: Das Präsidium will dem erfahrenen Entscheider im Maschinenraum der Behörde Vertrauen zurückgeben, forciert aber auch den Einsatz der IT-Systeme. Das zu vereinen, wird nicht einfach.

Zudem gilt, dass die digitalen Assistenten vor Gericht nur begrenzt als Beweismittel taugen. Einen zertifizierten Sprachgutachter in einem Gerichtssaal können sie nicht ersetzen. Und hat ein Flüchtling laut Handy-Auswertung häufig in den Libanon telefoniert, ist das kein Beleg dafür, dass er dort herkommt.

400.000 Fälle bei deutschen Verwaltungsrichtern

Derzeit liegt ein Stapel von rund 400.000 Fällen auf den Tischen deutscher Verwaltungsrichter. Alles sind Klagen von abgelehnten Asylbewerbern gegen die Entscheidung des Bamf. „Bisher haben die digitalen Assistenzsysteme in den Asylverfahren vor Gericht keine große Rolle gespielt“, sagt Robert Seegmüller.

Er ist Vorsitzender des Verbandes der Verwaltungsrichter. Software-Analysen könnten ein Anhaltspunkt für Ermittlungen sein, aber nicht ohne Weiteres an die Stelle von Beweismitteln wie Gutachten treten.

Systeme sind Hilfe, aber nie ausschließliche Quelle

Das Bamf will die Technik ausbauen. Derzeit arbeitet das Amt an einer Software, eine Art lernender Fragenkatalog für den Asyl-Entscheider. Das Programm wertet die Protokolle der Asyl-Interviews aus – und filtert verdächtige Sätze des Geflüchteten heraus, etwa wenn Aussagen eines Syrers Hinweise auf die Zugehörigkeit zu einer militanten Gruppe geben.

Doch das Bamf weiß um die Grenzen der Technik. Die Assistenzsysteme seien nie ausschließliche Quelle für die Prüfung, wo ein Flüchtling herkommt. Sie würden helfen, Widersprüche und Lücken in den Angaben der Asylsuchenden zu erkennen. Sie sollen Betrüger abschrecken.

Die IT könne die Angaben eines Flüchtlings aber eben auch untermauern, hebt Vize-Chef Richter hervor. Das, sagt er, sei sogar in der großen Mehrheit der Fälle so.