Berlin. Das Gehirn ist ein Wunderwerk der Natur. Im Buch „Nach Seepferdchen tauchen“ gehen zwei Norwegerinnen der Erinnerung auf den Grund.

Warum erinnern sich manche Menschen an mehr Details aus ihrer Kindheit als andere? Und wieso sind manche Erinnerungen falsch, obwohl sie sich so wahr anfühlen? Das menschliche Gedächtnis ist ebenso faszinierend wie rätselhaft. Das finden auch Ylva und Hilde Østby. Die Neuropsychologin und die Journalistin, Schwestern aus Norwegen, haben dem Gedächtnis das Buch „Nach Seepferdchen tauchen“ gewidmet. Seepferdchen, so heißt auf Deutsch der Hippocampus, der Teil unseres Gehirns, der für die Vernetzung der Erinnerungen zuständig ist.

Ob und wie wir uns an unsere Kindheit erinnern, hängt davon ab, „wie das Gehirn zusammengeschraubt ist“, so nennt es Ylva Østby. „Das sind schlicht und einfach physische Bedingungen, die angeboren sind.“ Nur der Hippocampus durchlaufe noch eine starke Entwicklung in den ersten zehn Jahren. Was dabei herauskommt, könne sehr unterschiedlich sein. „Manche erinnern sich sehr gut an Gesichter. Manche haben ein sehr gutes Arbeits-, aber ein schlechteres Langzeitgedächtnis“, sagt Ylva Østby.

Dass sich das Gehirn aber auch im Erwachsenenalter noch verändern könne, zeige ein Experiment aus London: Die Menschen, die dort den Taxifahrer-Test „The Knowledge“ nach jahrelangem Einprägen des komplexen Stadtplans bestanden hatten, zeigten hinterher einen messbar größeren hinteren Teil des Hippocampus.

Taxifahrer in London können das Straßennetz auswendig

Die Leiterin des Experiments vom University College London, Gedächtnisforscherin Eleanor Maguire, habe damit auch denen Hoffnung gegeben, deren Gedächtnis durch Verletzungen, Epilepsie oder beginnende Demenz geschädigt wurde, sagt Ylva Østby. Mit einer Einschränkung allerdings: „Die Taxifahrer waren hinterher nicht mehr so gut darin, sich geometrische Figuren zu merken“, erklärt Co-Autorin Hilde Østby.

Dass das Gedächtnis kein Computer ist, der verlässlich alles abspeichert, was das Gehirn aufnimmt, zeigt sich spätestens beim Phänomen der falschen Erinnerungen, denen die Østby-Schwestern ein eigenes Kapitel widmen. Es tritt etwa nach traumatischen Ereignissen auf, wie bei Adrian Pracon, einem Überlebenden des Amoklaufes auf der norwegischen Insel Utøya im Jahr 2011, über den die Autorinnen schreiben.

Pracon erinnert sich ganz genau daran, was auf Utøya passierte. An die Schüsse, an die plötzliche Panik, die völlige Verwirrung, was dort gerade vor sich ging. Wie er durch den Wald rannte, auf der Flucht vor einer unbekannten tödlichen Bedrohung. Der norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik schoss ihm in die Schulter, aber der Junge überlebte, eine Freundin von ihm nicht. Pracon erinnert sich ganz genau, wie sie neben ihm starb. Bloß: Das stimmt nicht.

Neues, was zum Alten passt, wird eingeflochten

Seine Freundin starb zwar, aber an einem anderen Ort auf Utøya. Wie kann es sein, dass Pracon sich in diesem Punkt irrt? Tatsächlich sei es überhaupt nicht ungewöhnlich, dass sich diese falsche Erinnerung in Pracons Kopf eingeschmuggelt hat, erklären die Østby-Schwestern. So funktioniere das Gedächtnis, es sei eben keine Datenablage, sondern ein Geschichtenerzähler. Erinnerungen werden nicht abgerufen, sondern rekonstruiert. Neues, was zum Alten passt, kann eingeflochten werden, überlagern, sich echt anfühlen.

Gehirnanatomie: Rechte und linke Gehirnhälfte, lila hier zu sehen der Hippocampus
Gehirnanatomie: Rechte und linke Gehirnhälfte, lila hier zu sehen der Hippocampus © picture alliance / BSIP | dpa Picture-Alliance / FERNANDO DA CUNHA

Tatsächlich stellte sich später während des Prozesses gegen Breivik heraus, dass der junge Mann sich an alle Ereignisse korrekt erinnert hatte, nur hatte er aus einem Mädchen, das neben ihm erschossen wurde, im Kopf ein anderes gemacht – das, welches ihm persönlich nahestand.

„Es reicht schon, vielleicht nur eine Millisekunde an sie gedacht zu haben“, zitieren die Autorinnen die Traumapsychologin Ines Blix. „Vielleicht fürchtete er, dass es sich um seine Freundin handelte, als der Schuss fiel, das genügt schon.“ So werde die Vorstellung real und zu einer Erinnerung.

Die Aussagen von Holocaust-Überlebenden

Ähnliches berichten auch Menschen, die sich mit Holocaust-Überlebenden beschäftigen: So seien ehemalige Insassen des NS-Konzentrationslagers Stutthof bisweilen überzeugt, über dem Tor zum Lager habe der Satz „Arbeit macht frei“ gestanden. Tatsächlich stand der Satz unter anderem über den Toren der Lager von Auschwitz und Dachau – in Stutthof stand er nicht.

Der Schriftzug habe erst im Nachhinein hohe Bedeutung für die Leiden der Überlebenden bekommen, und so habe ihr Gedächtnis es der Erinnerung hinzugefügt, erklärt Ylva Østby. Ihre Schwester sieht, zu welchen Problemen dies führen kann: „Ein Holocaustleugner würde das gegen die Überlebenden benutzen und ihre Erinnerungen generell anzweifeln“, sagt sie. Doch wie auch bei Amok-Opfer Adrian Pracon müsse der Rest der Erinnerungen nicht falsch sein. „Die allermeisten Erinnerungen haben ihre Wurzeln in der Wirklichkeit“, sagt Ylva Østby. Falsche Erinnerungen seien ein Grund dafür, dass Gedächtnisforschung so wichtig sei.

Erinnern an Schmerz

Wie häufig solche falschen Erinnerungen auch im Alltag vorkommen, erklären die Schwestern mit einer gemeinsamen Kindheitserinnerung: Ylva, die vier Jahre jüngere Schwester, war gefallen und blutete. Hilde wollte helfen, indem sie die Wunde, wie vom Vater gelernt, desinfizierte. Sie fand kein Jod, aber Mundwasser mit Alkohol. Ylva schrie vor Schmerz, als Hilde es über die Wunde goss.

Heute erinnert sich Ylva nur noch an den Sturz, Hilde aber deutlich an ihren Desinfektionsversuch. „Ich erinnere mich daran, weil ich mich so schuldig fühlte“, davon ist sie überzeugt. „Ich war ja plötzlich ein Folterknecht geworden.“