Sydney . Die junge Frau erinnert sich an jedes einzelne Detail aus ihrem Leben. Mit dieser Fähigkeit ist sie nur eine von 60 Menschen weltweit.

Rebecca Sharrock hat ein außergewöhnliches Gehirn: Sie kann sich an alles in ihrem Leben erinnern: Momente, Gespräche, Gerüche und Gefühle. Die 28-jährige Australierin ist eine von nur 60 Menschen weltweit mit dieser Fähigkeit, die ab und zu auch zum Fluch werden kann. Wer mit ihr redet, kann es kaum fassen: Sharrock erinnert sich an jedes Detail – auch wenn es noch so lange her ist.

Sie kann wie auf Knopfdruck erzählen, was sie vor genau einem Jahr gegessen hat. Abends wie mittags. Abends habe sie Pizza mit Chili und Schweinefleisch gegessen. Mittags gab es Reste vom Curry am Abend zuvor. Sie plaudert über den Härtegrad von Kartoffeln, die vor einem Jahr auf dem Teller landeten, als sei das alles gestern gewesen. Natürlich weiß sie auch, welche Kleidung sie getragen hat, was Leute gesagt haben, wie sie sich gefühlt hat – selbst wenn das schon fast 28 Jahre her ist.

„Meine erste Erinnerung ist, wie ich als Baby meinen Kopf zwischen den Knien vergraben habe“, erzählt sie im Telefoninterview. Sie vermutet, das sei noch im Bauch ihrer Mutter gewesen. Die erste Erinnerung, die sie dank eines Fotos tatsächlich datieren kann, stammt von ihrem 12. Lebenstag. „Ich erinnere in Sequenzen“, sagt sie. „Alles ist in chronologischer Reihenfolge.“

Bis vor fünf Jahren wusste Rebecca Sharrock nicht, warum sie sich an so viel mehr Details erinnern kann als andere Menschen. „Für mich war es ja normal“, sagt sie. Sie habe ja nie etwas anderes gekannt.

Auch negative Gefühle werden nicht vergessen

Lange Zeit glaubte sie deswegen, jeder Mensch sei wie sie. Ihre Familie dagegen machte sich schon Sorgen. Aber erst vor sieben Jahren sahen ihre Eltern eine Fernsehsendung, in der es um das sogenannte H-SAM-Syndrom – das Highly-Superior-AutobiographicalMemory-Syndrom bei Autisten – ging. „Das ist das, was Rebecca hat“, sagten sie. Die offizielle Diagnose erfolgte 2013 in den USA.

„Ich kann alle meine Emotionen detailliert erinnern und alles, was mit meinen fünf Sinnen zu tun hat“, sagt Rebecca. „Es geht so weit, dass ich erinnere, wie Essen in meinem Mund schmeckte.“ Meist sei das schön, doch es gebe auch unangenehme Momente. „Als ich sechs Jahre alt war, sollte ich meinen Salat essen und spielte dabei mit dem Salz.“ Als ihre Mutter weggeschaut habe, habe sie den Salat mit Salz eingedeckt.

Ihre Mutter, die ahnungslos war, forderte sie auf, den Salat endlich aufzuessen, und Rebecca, die nicht zugeben wollte, was sie getan hatte, aß ihn. „Das schmeckte schrecklich.“ Und dieser Geschmack habe sie ihr ganzes Leben verfolgt. Genauso verhält es sich mit anderen negativen Gefühlen. „Manchmal überwältigen mich solche Emotionen dann ganz plötzlich“, sagt Sharrock. „Das stresst mich, und es ist mir peinlich zu sagen, dass ich etwas von vor zehn oder 20 Jahren wieder durchlebe.“

Erinnerungen an jede einzelne Schulstunde

Noch bis vor wenigen Jahren hätten ihre Erinnerungen sie oft die ganze Nacht wachgehalten. Angstzustände und Depressionen kamen zur Schlaflosigkeit hinzu. „Doch inzwischen habe ich Strategien gelernt“, sagt sie. Eine sei gewesen, sämtliche „Harry Potter“-Bücher auswendig zu lernen. Diese rezitiere sie zur Beruhigung nun jeden Abend vor dem Einschlafen.

Letztere Fähigkeit hat ihr in Aus­tralien bereits einigen Ruhm eingebracht, als sie in Fernsehsendungen bewies, dass sie Sätze aus den Büchern, die ihr vorgelesen werden, einfach so vollenden kann. In der Schule aber war sie nie ein Überflieger, sagt sie. „Ich kann jede einzelne Schulstunde in meinem Leben erinnern, aber durch den Autismus ist mein Verständnis langsamer.“ Deswegen habe sie auch noch keine Fremdsprache völlig gemeistert. Sie hält Vorträge über das H-SAM-Syndrom und schreibt einen Blog. Und plant, Neuropsychologie zu studieren, um an der Uni arbeiten zu können.

Ist das Supergedächtnis nun Fluch oder Segen? „Noch vor fünf Jahren hätte ich gesagt, ich will es lieber nicht haben“, sagt sie. Doch inzwischen habe sie ihr Leben besser akzeptiert. „Mein Bruder ist als kleines Kind immer auf Abenteuer-Wanderung mit unserem Vater gegangen und hat das über alles geliebt.“ Heute könne er sich jedoch nicht mehr daran erinnern. Das könne ihr nicht passieren.