Berlin. Vor 60 Jahren kam die Rundum-Autoverglasung, die in den USA schon etabliert war, nach Europa. Ob Opel, Alfa, oder Volvo – alle folgten.

Alles blickte nach Amerika in jenem Sommer vor 60 Jahren. Von dort kamen nicht nur angesagte Cocktails, heißer Rock ‘n’ Roll und Passagierjets, sondern auch eine Welle chromglitzernder Straßenkreuzer mit gläsernen Bubble-Tops. Diese lichtdurchfluteten Fahrzeuge im Panoramascheiben-Design setzten das automobile Signal zum Aufbruch in eine neue Zeit. Zuerst bei den Detroiter Tochterfirmen Opel, Vauxhall und Ford, dann aber auch bei allen anderen trendbewussten europäischen Marken.

Die dunklen Kriegsjahre lagen über ein Jahrzehnt zurück, die Wirtschaft boomte und die Menschen wollten wieder reisen – erstmals im eigenen Auto. Genau das machte die aus Nordamerika kommende Mode der Autos mit einer Rundumverglasung im Breitbildformat so begehrenswert.

Statt des Blicks aus kleinen, geteilten Windschutzscheiben oder Brezel-Rückfenstern boten Limousinen und Coupés, aber auch erste Kombis mit Panoramascheiben ihren Passagieren Aussichten und Erlebnisse ähnlich wie Kinofilme, die im Cinemascope-Format gezeigt wurden. Waren es anfangs nur Concept Cars, die den Eindruck einer Rundumverglasung hervorriefen, erreichte der Hype im Modelljahr 1958/59 einen Zenit. Damals wollten allein in Deutschland 55 Marken von Alfa bis Volvo den Traum von der schöneren Aussicht wahr machen.

Neue Verfahren ermöglichten „herumgewickelte Scheiben“

Wohlstand macht satt, vor allem nach Jahren kriegsbedingten Mangels. Immer schneller rotierte deshalb in den 50er-Jahren das Innovationskarussell der Automobilindustrie, um Kunden hungrig zu machen auf zukunftsweisende Techniken und Formen.

Während in Europa die Vollmotorisierung mit dem Wirtschaftswunder erst richtig in Fahrt kam, setzte Amerika schon damals auf die Magie jährlicher Motorama Motorshows, bei denen Dreamcars und raketenähnliche Concepts mit verglasten Kanzeln und Finnen oder Flügeln den Weg in das Weltraumzeitalter wiesen. So sollten die Absatzzahlen der Serienfahrzeuge beschleunigt werden.

Der von General-Motors-Chefdesi­gner Harley Earl gezeichnete, futuristische Le Sabre adaptierte deshalb 1951 nicht nur das Heck des namensgebenden Düsenjets F86-Sabre. Er setzte auch auf eine flache, um das Cockpit gezogene Panoramafrontscheibe, deren Serienproduktion erst durch neue Verfahren der Glasherstellung möglich wurde. Die Panoramaverglasung des Le Sabre wurde zur Design-Blaupause für alle Marken des GM-Konzerns.

Mehr noch: Wenig später setzte ganz Detroit auf diese sogenannten Wraparound-Windshields beziehungsweise Wraparound-Rear-Windows, also „herumgewickelte Front- oder Heckscheiben“. Im nächsten Schritt kam das luftige Raumgefühl der Panoramavision nach Europa, ermöglicht durch den Stardesigner Pinin­farina und die Tochtermarken der amerikanischen Big Three.

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    „Vutotal“-System verzichtete gänzlich auf Fensterrahmen

    Tatsächlich hatte es schon vor dem Zweiten Weltkrieg mehrere Anläufe gegeben, Limousinen in lichtdurchfluteten Formen zu etablieren. In Amerika wurde ab den 1930er-Jahren das Netz an Highways und Scenic Drives ausgebaut, in Europa entstanden neue Touristik- oder Panoramastraßen, Horizonterweiterung war also angesagt.

    Allein die kleinen Sehschlitze oder geteilten Frontscheiben auch in exklusiven Coupés und Limousinen standen den großen Aussichten im Weg. Entsprechend enthusiastisch gefeiert wurden deshalb mondäne Modelle wie der Chrysler Imperial Airflow CW und Panhard Levassor Panoramique mit gewölbten Windschutzscheiben.

    Auch das 1936 vom französischen Karossier Jean-Henri Labourdette für Delage und andere Marken präsentierte „Vutotal“-System („totale Sicht“), das gänzlich auf Fensterrahmen verzichtete, erzielte einen Achtungserfolg. Richtig los ging die Suche nach der großen Sicht 1947, als Studebaker im Starlight die erste gebogene Frontscheibe aus Sicherheitsglas einführte.

    Essenziell wurde die gewickelte Windschutzscheibe

    Essenzielles Accessoire aller glamourösen amerikanischen Stilikonen wurde die beim Le Sabre gezeigte „gewickelte“ Windschutzscheibe 1953. Ein Jahr später präsentierte der italienische Pininfarina den Lancia Aurelia B24 Spider mit einer Panoramascheibe, die an die Windabweiser der legendären Riva-Motorboote erinnerte, vor allem aber maßgeschneidert war für Hollywood-Boulevard und 5th Avenue.

    Entstanden war der exklusive Lancia nämlich auf Wunsch des amerikanischen Sportwagenimporteurs Max Hoffman. Noch weiter ging 1956 Pininfarinas Ferrari Superfast, der auf A-Säulen verzichtete und plexiverglaste Scheinwerfer einführte. Auch bei den Massenmodellen wurde Panorama zur automobilen Mode für Millionen. Damit konnten Familienväter beim sonnabendlichen Waschritual allen neidischen Nachbarn zeigen: Wir haben es geschafft.

    Unvorstellbarer Jubel für die ersten Opel im Buick-Stil

    Prädestiniert für diesen Schaulauf war der Panoramascheiben-Rekord-P1 (P = Panorama), wie der heute unvorstell­bare Jubel begeisterter Passanten unterstrich, als diese ersten Opel im Buick-Stil auftauchten. Kein Wunder, dass Opel die Panorama-Designlinie des Rekord auch auf den repräsentativen Kapitän des Jahrgangs 1958 übertrug – und einen Flop lancierte. Was nicht nur am beengten Fond-Einstieg in den Kapitän P1 lag, sondern an Exzessen des Pano­ramakonzepts.

    Tatsächlich waren die extrem gekrümmten Scheiben bisweilen so geschnitten, dass die unteren gerundeten Ecken spitze Innenwinkel aufwiesen und die A-Säulen in Gegenrichtung zur konventionellen Bauweise geneigt wurden. Entsprechend beschwerlich wurde der Einstieg vorn wie hinten. Andererseits führte der Sicherheitsgewinn durch ein besseres Sichtfeld dazu, dass sogar konservative Hersteller wie Volvo immer größere Verglasungen einführten, wie der Volvo PV 544 demonstrierte.

    Kurz vor seinem Ruhestand stellte GM-Design-Vordenker und Panoramapionier Harley Earl im Sommer 1958 zufrieden fest, dass mehr als 200 Autotypen Stilelemente seiner lichtdurchstrahlten Chromkreuzer zitierten. Panoramascheiben öffneten den Passagieren die Augen, fühlten sie sich damit doch fast im Freien, besonders natürlich in exklusiven Hardtop Coupés à la Facel Vega oder Mercedes 220. Auch Auto Union 1000 SP Coupé, Simca Océane oder Alfa Giulietta Sprint Speciale punkteten so – ohne bei Regen oder Gewittern unpässlich zu sein wie Cabriolets.

    Die Luftigkeit forderte ihren Preis

    Neben Panorama-Front- und -Heckscheiben (in fast allen US-Modellen sowie bei Panhard Dyna, Simca Ariane und Vedette, Tatra 603, Vauxhall Victor und Cresta) konzentrierten sich manche Marken auf extragroße Heckscheiben (etwa BMW 502, Borgward Isabella Coupé, Bristol 406, Ford Consul, Goggomobil Coupé, Lloyd Frua, Renault Floride oder Volvo PV 544).

    Ganz auf das Thema Reisen ausgerichtet waren dagegen nicht nur Panoramabusse, sondern auch Vielfenster-Typen wie Wartburg 311 Camping, Borgward Isabella Combi, Fiat Multipla, Lloyd LT 600 oder Opel Caravan.

    Das Thema Panorama kannte viele Spielarten, tanzte aber trotzdem nur wenige Sommer. Denn die lichte Luftigkeit forderte ihren Preis – durch höhere Produktionskosten und die starke Aufheizung des Innenraums in der Sonne. Genau aus diesen Gründen scheiterte auch im 21. Jahrhundert die Rückkehr der Glaskanzeln bei wagemutigen Modellen wie Opel Astra GTC oder Citroën C3.