Doha. Lionel Scaloni hat mit 44 Jahren einen ganz eigenen Stil entwickelt, um aus Argentinien einen Weltmeister zu formen.

Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte Lionel Scaloni wohl auch noch Küsse empfangen. Der argentinische Nationaltrainer, bei dieser WM ziemlich nahe am Wasser gebaut, hatte gerade schluchzend zugegeben, dass ihn der Gedanke an Diego Maradona besonders rühre. Deshalb war er nach der Pressekonferenz auch aufgestanden, um in seinem himmelblauen Nationaltrikot und den goldenen Sternen auf der Rückseite eigentlich in die Kabine zu gehen, doch ein Radioreporter ließ ihn nicht. Legte den Arm fordernd um die Schulter, presste den Kopf des Weltmeistermachers ans Mikrofon und führte ein skurriles Interview.

Dass der Coach das nach seinem größten Erfolg über sich ergehen ließ, sagt einiges über seinen anständigen Charakter aus. „Wir freuen uns mit den Leuten. Wir hatten schwere Zeiten, die haben wir durchgestanden“, hatte Scaloni zuvor gesagt. „Man kriegt mal einen Nackenschlag, aber dann kommt man zurück.“ Tatsächlich hat er echte Stehaufmännchen erschaffen, die im Finale gegen Frankreich wie schon im Viertelfinale gegen Niederlande am Ende einen 2:0-Vorsprung verspielten. Andere Teams brechen dann ein. Nicht diese Mentalitätsmonster, die sich danach gemeinsam schütteln, sammeln – und wieder in der Verlängerung nach vorne spielen, um Selbstvertrauen fürs Elfmeterschießen zu sammeln.

Scaloni ist der jüngste Weltmeistercoach seit Cesar Luis Menotti

Dort schlüpft „Dibu“ in die Heldenrolle, Torhüter Emiliano Martinez, den auch erst Scaloni zur Nummer eins ernannte. Alles also kein Zufall. Im Finale war seine größte Leistung, etwas überraschend wieder auf Linksaußen Angel di Maria zu setzen. Messis Kumpel aus Rosario hatte in der K.o.-Runde seinen Stammplatz verloren, di Marias Aufstellung „war der Schlüssel“, sagte Scaloni. Mit seinen 44 Jahren ist dieser Fußballlehrer der jüngste Weltmeistercoach seit 44 Jahren – das passt ja. Sein Landsmann Cesar Luis Menotti war beim ersten WM-Sieg 1978 gerade 40 geworden.

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Nun verorten viele ihn bereits in den Fußstapfen eines Carlos Bilardo, der beim WM-Triumph 1986 einen Diego Maradona führte. Ein exzellenter Taktiker. Und ein spezieller Charakter. Der aktuelle Coach wirkt fast schon zur normal, muss aber auch was Besonderes haben, sonst hätte sich Lionel Messi nicht einmal unter Tränen bedankt. Denn bei dessen Amtsübernahme nach der WM 2018 lag die „Albiceleste“ nach einem 3:4 gegen Frankreich im Achtelfinale mal wieder am Boden. Scaloni, der nur sieben Länderspiele für Argentinien machte, musste erstmal die Trümmer seines Vorgängers Jorge Sampaoli beiseite räumen. Er überzeugte den sechsfachen Weltfußballer davon, erst einmal eine gefestigte Truppe ohne ihn bauen zu wollen, ehe sich der Genius wieder einreiht.

Scaloni führte Argentinien zunächst zum Sieg der Copa América

Der waghalsige Plan ging tatsächlich auf. Mit dem Anführer Messi gewann Argentinien dann nach 28 titellosen Jahren beim Erzrivalen Brasilien die Copa América 2021. Scalonis größte Errungenschaft: Er hat ein System erschaffen, in denen die Mitspieler für Messi spielen – und Messi sich für sie einsetzt. Ex-Internationale wie Walter Samuel oder Pablo Aimar helfen als Co-Trainer, die Botschaften anzubringen.

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Die beiden „Lionels“ funken seitdem auf einer Wellenlänge, was Messi von den meisten der acht Vorgänger nicht behaupten konnte. Diego Maradona, mit dem er jetzt so oft verglichen wird, war die wohl größte Lachnummer, als Argentinien im WM-Viertelfinale 2010 gegen Deutschland (0:4) unterging. Bundestrainer Joachim Löw sagte damals, die Argentinier hätten eine „zweigeteilte Mannschaft“ – er hätte auch sagen können: Sie hatten keinen auf der Bank, der Messi zu Titeln führt. Nun wird das Team schon „La Scaloneta“ genannt. Ein größeres Kompliment kann es kaum geben.