Washington. Den Umfragen zum Trotz gewinnt Donald Trump die Wahl zum 45. Präsidenten der USA – die politische Landschaft ist jetzt eine andere.

Der Augenblick, in dem sich der Trumpismus Amerika bemächtigt und Hillary Clinton zur historischen Fußnote macht, lässt sich ziemlich präzise rekonstruieren.

Es ist zwischen 21 Uhr und 21.30 Uhr amerikanischer Ostküstenzeit am Dienstagabend, als zwei Hiobsbotschaften die nahende Sensation einläuten.

Zuerst streut sich der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman via Twitter Asche aufs Haupt. Angesichts der ersten Ergebnisse gesteht der bekennende Donald-Trump-Hasser, er habe die „Wut des weißen, ländlichen Amerikas vollkommen unterschätzt“.

„New York Times“ schlägt ersten Nagel in Clintons Sarg

Wenige Minuten später schlagen die Analysten der „New York Times“, bis zuletzt das stärkste publizistische Geschütz gegen den künftigen Präsidenten Amerikas, den ersten Nagel in Hillary Clintons Sarg. Ihre Siegchancen werden auf der Internetseite der Zeitung im Licht der schrittweise eingehenden Hochrechnungen radikal von 85 auf 49 (und später auf fünf) Prozent gesenkt.

„In dem Moment ahnten wir, dass die Talfahrt schrecklich enden wird“, sagt ein immer noch geschockter Mitarbeiter der demokratischen Präsidentschaftskampagne. Wie konnte das passieren? Wie konnten bis auf zwei, drei Ausnahmen fast 70 Umfragen in den letzten Tagen vor der Wahl so falsche Ergebnisse produzieren?

Trump bewies Instinkt

In ersten Bewertungen taucht gestern der Begriff des „Hidden Trumpist“ auf; ein Wähler also, der sich bei den Befragungen in den vergangenen Wochen wie ein Geheimagent verhalten und seine wahren Absichten nicht kundgetan hat. Trump sprach von dieser „schweigenden Mehrheit“ über Monate im Wahlkampf. Und wurde dafür verlacht.

Seit gestern lacht niemand mehr. Trump hatte den richtigen Riecher. Im Wahlkrimi des Jahres führte sein In­stinkt Regie. Wie zu erwarten, konzen­triert sich das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Republikaner und der Demokratin zunächst auf den Sonnenscheinstaat Florida. Traditionell umkämpft, demografisch beispielhaft für ganz Amerika. Und mit 29 Wahlleuten einer der „Hauptpreise“.

Erste dunklen Wolken über der Wahlkampfzentrale in Brooklyn

Als die US-Nachrichtenagentur AP um 22.53 Uhr Trumps Sieg in Florida verkündet, ziehen über der Wahlkampfzentrale Clintons in Brooklyn die ersten dunklen Wolken auf. „Von da an war klar, dass es eine Zitterpartie werden würde“, so der Helfer, der seit heute wie viele andere beruflich vor dem Nichts steht. Von Hochrechnung zu Hochrechnung wird aus dem Zittern Schockstarre.

Ein Nebengrund: Schon gegen 20.30 Uhr nimmt der Wähler den Demokraten die Illusion, im Kongress künftig aus der Poleposition heraus Politik machen zu können. Die Republikaner verteidigen das Repräsentantenhaus. Im Senat zeichnete sich eine identische Konstellation ab: Die „Grand Old Party“ bleibt tonangebend.

Denkzettel gegen Washington und Obamas Gesundheitsreform

Besonders ängstigt das Clinton-Lager zu diesem Zeitpunkt, was als grobe Überschrift aus Florida erkennbar wird. Neun von zehn Wählern wollten Denkzettel verteilen. Gegen Washington. Gegen Obamas Gesundheitsreform. Gegen alles. Mehr und mehr lenken die großen Fernseh-Networks mit ihren Hundertschaften ab 23 Uhr den Blick auf die anderen traditionell entscheidenden Swing States – Wechselwähler-Staaten, die in der Vergangenheit mal Rot (republikanisch), mal Blau (demokratisch) gewählt haben.

Hier setzt sich Clintons Untergang nahtlos fort. Bis auf Nevada, wo Latinos den Ausschlag geben, Virginia und Colorado geht die 69-Jährige trotz immensen Einsatzes von Wahlwerbung und Helfern am Boden leer aus. Die deutlichste Quittung kriegt sie in den einst blühenden Industriestaaten des „Rust Belt“ (Rostgürtel), in denen Trumps Botschaft unerwartet stark verfing.

Demokratisches Blau wird zur Randerscheinung

Die Meilensteine, jeder für sich demnächst wohl Gegenstand von Studien, Tiefenbefragungen und Büchern: Wisconsin, wo Demokraten zuletzt vor 36 Jahren verloren haben, färbt sich rot ein. Pennsylvania, das seit 24 Jahren seine 20 Wahlleute im „Electoral College“ stets verlässlich mit einem demokratischen Auftrag eindeckt – auch rot. Ohio, seit über 50 Jahren der Staat, den ein künftiger Präsident holen muss – ebenfalls rot.

Wer nach 23.30 Uhr die politische Landkarte Amerikas studiert, erkannte schnell: Das demokratische Blau war zur Randerscheinung geworden. An der Westküste von Kalifornien bis Washington State – okay, Clinton-Land. Ebenso New Mexico und Colorado. Auch ein paar Ecken im Nordosten. Aber dazwischen? „Der Kandidat hat viele Gewissheiten durchkreuzt“, sagt gegen Mitternacht ein Wahlanalytiker dem Sender MSNBC, „selbst da, wo Obama vor vier und vor acht Jahren vorn lag, bleibt kein Stein auf dem anderen.“

60 Millionen Amerikaner wählen Trump

Für Clinton wird der Pfad zu den nötigen 270 Stimmen in den frühen Morgenstunden zum Nadelöhr. Um 1.39 Uhr saugt Pennsylvania letzten Überlebensmut aus der Kampagne. Vergrätzte Stahl- und Bergarbeiter, die weiße Mittelschicht, Frauen: Sie alle geben Donald Trump den Vorzug.

Um 2.31 Uhr Ortszeit geht eine der längsten Wahlnächte der vergangenen 20 Jahre zu Ende. Wisconsin wird Trump-Land. Der Kandidat nimmt die Hürde zu den erforderlichen 270 Stimmen. Am Ende werden ihn fast 60 Millionen Amerikaner gewählt haben. Gleich 276 Stimmen. Gleich Präsidentschaft. Der Trumpismus hat Amerika erobert. Was das bedeutet, kann man später in Kalifornien sehen: In Oakland setzen Demonstranten ein Porträt von Trump in Brand. In Davis skandieren Studenten an die Adresse Trumps: „Du bist nicht Amerika, wir sind Amerika.“