Berlin. Innenministerin Faeser stellt die Polizeiliche Kriminalstatistik vor. Die Bilanz hat Risiken – und wird oft falsch interpretiert.

Die Schläge sind heftig, mit der Hand ins Gesicht, dann packt er sie am Arm, stößt sie gegen die Wand, ein Bild fällt zu Boden. Der Streit zwischen ihm und ihr eskaliert mit Gewalt. Doch sie wird auch dieses Mal nicht zu Polizei gehen, ihn nicht wegen Körperverletzung anzeigen. Er habe sich ja beruhigt, sie sei ja auch irgendwie schuld an dem Streit gewesen. Außerdem muss diese Ehe halten, allein schon der Kinder wegen.

Es ist ein Fall häuslicher Gewalt, den Sozialarbeiter immer wieder so oder ähnlich schildern. Doch es ist ein Fall, von dem die Polizei nie erfahren wird. Die Frau bringt ihn nicht zur Anzeige. Aus Angst, aus Scham.

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Auch zwei andere Straftäter gehen nicht zur Polizei – nicht aus Scham, sondern weil sie schlicht kein Interesse haben: der Kokain-Konsument und sein Drogenhändler. Der eine läuft zum Dealer, holt sich den Stoff, nimmt diesmal sogar ein paar Gramm mehr mit, weil er es Freunden weiterverkaufen will. Nach ein paar Minuten ist das Geschäft erledigt, der Deal bleibt ihr Geheimnis.

Innenministerin Nancy Faeser stellt die Polizeistatistik prominent in Berlin vor

Zwei Szenen in einem Alltag der Kriminalität in Deutschland. Doch wenn heute Bundesinnenministerin Nancy Faeser(SPD) in Berlin vor versammelter Presse die Polizeiliche Kriminalstatistik – kurz: PKS – für 2022 vorstellt, werden die Schläge gegen die Frau und der mittelgroße Koks-Deal nicht in dieser Statistik zu finden sein. Wie so vieles andere auch nicht.

Präsentiert die aktuellen Kriminalitätszahlen: Innenministerin Nancy Faeser (SPD). Doch was ist die Statistik wert?
Präsentiert die aktuellen Kriminalitätszahlen: Innenministerin Nancy Faeser (SPD). Doch was ist die Statistik wert? © dpa | Kay Nietfeld

Die PKS soll so etwas sein wie die große Kriminalbilanz für Deutschland. Ein Messgerät dafür, welche Straftaten und wie oft sie begangen werden. Eine Art Verbrechens-Seismograph. Oft sind die Debatten nach der Vorstellung der Statistik durch Ministerium und Polizei laut: Politiker fordern schärfere Gesetze, mehr Beamte in den Sicherheitsbehörden, längere Haftstrafen. Oder aber sie sagen: Die Zahlen gehen runter, Deutschland ist sicher. Alles gut, also. Oder doch nicht?

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Fachleute warnen. „Es gibt wohl kaum eine Statistik in Deutschland, die ähnlich stark überinterpretiert und missbraucht wird“, sagt der frühere Kriminalbeamte und jetzige Innenexperte der SPD im Bundestag, Sebastian Fiedler, unserer Redaktion. „Die Polizeiliche Kriminalstatistik in ihrer jetzigen Form sagt nichts über die Kriminalitätswirklichkeit in Deutschland aus. Das Sammeln von Delikten und Tatverdächtigen ist vage, anfällig und verzerrt“, erklärt die frühere Polizistin Irene Mihalic. Heute ist sie Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag. Und Kriminologe Tobias Singelnstein von der Goethe-Universität Frankfurt hebt hervor: „Wir können Kriminalität nie genau messen.“

Hunderte Seiten Analysen, Grafiken, Zahlen und Tabellen – all das soll wenig aussagen?

Hunderte Seiten Analysen, Grafiken, Zahlen und Tabellen – all das soll wenig aussagen? Um die Tücken und Risiken der Polizeilichen Kriminalstatistik zu verstehen, muss man wissen, wie sie entsteht: Die jährliche große Bilanz ist eine „Ausgangsstatistik“. Sie führt auf, welche Tatverdächtigen die Polizei ermittelt hat, unterschieden etwa nach Delikten, nach Alter, Geschlecht, deutsch oder nicht-deutsch. Insgesamt gut 5,6 Millionen Straftaten sind es 2022, so viel wurde schon bekannt.

Ein Mann wird bei einer Razzia, mit einer Decke über dem Kopf, von der Polizei abgeführt.
Ein Mann wird bei einer Razzia, mit einer Decke über dem Kopf, von der Polizei abgeführt. © dpa | Christophe Gateau

Das heißt: In der Polizeistatistik können nur Straftaten berücksichtigt werden, von denen die Polizei etwas mitbekommt. In der Regel durch eine Anzeige. Das ist vor allem bei Wohnungseinbrüchen der Fall oder dem Auto-Diebstahl, überall dort, wo die Betroffenen nur Geld von ihrer Versicherung zurückbekommen, wenn sie die Polizei einschalten. Die Polizei funktioniert wie ein „Notar“ für Straftaten.

Schon beim Fahrraddiebstahl hängt es davon ab, ob ein Besitzer sein gestohlenes Fahrrad versichert hatte. An einen Ermittlungserfolg glaubt er vielleicht ohnehin kaum, spart sich den Stress einer Anzeige. Eklatant sind die Zahlen bei Internetkriminalität, wo Untersuchungen davon ausgehen, dass vier von fünf Straftaten nicht gemeldet werden.

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Bei schweren Gewalttaten ist eher wahrscheinlich, dass ein Opfer Anzeige erstattet – vor allem dann, wenn ein Fremder der Täter ist. Oder ein Betroffener weiterhin von einer Bedrohung ausgeht. Weniger oft melden sich Opfer, wenn Gewalttäter im sozialen Nahraum zuschlagen, etwa wie im Beispiel der Ehefrau. Aber auch Opfer von Sexualstraftaten zeigen diese selten an.

Studien zeigen, dass Menschen einen Täter eher anzeigen, wenn er ihnen fremd ist. Eine Folge: Zuwanderer und Migranten geraten auch deshalb öfter ins Visier der Polizei, weil ihre Taten eher gemeldet werden. Migranten selbst hingegen haben häufig ein geringeres Vertrauen in die Arbeit der Polizei, gerade wenn sie aus autoritären Regimen hierher geflohen sind, in denen Sicherheitsapparate korrupt sind und willkürlich handeln. Die Folge dann: Menschen mit Migrationsgeschichte meiden die Polizei. Auch in Deutschland. Das wirkt auf die Statistik ein.

Cliquen regeln Gewalt lieber unter sich – als die Polizei einzuschalten

Auch Beleidigungen oder Raufereien auf dem Schulhof bringen viele junge Menschen nicht zur Anzeige bei der Polizei. Nicht nur, weil es „dazugehört“ in ihrer Clique, sondern weil sie es vielleicht gar nicht als Straftat wahrnehmen. Genauso wie ein Foto von Gewaltdarstellungen mit Kindern oder ein Hakenkreuz-Witz, den Jugendliche über ihre Handy-Chatgruppen verschicken – und eher witzig finden als kriminell. Und tritt eine schwere Straftat auf, gilt vielleicht in der Schulhof-Gruppe ohnehin: „Das lösen wir unter uns.“ Ohne Polizei.

Kriminalität der Drogenkartelle: Die Polizei erfährt davon selten durch eine Anzeige, sondern nur durch hohe Kontrollintensität.
Kriminalität der Drogenkartelle: Die Polizei erfährt davon selten durch eine Anzeige, sondern nur durch hohe Kontrollintensität. © dpa | arcus Brandt

Durch manche Delikte erfährt die Polizei aber nicht nur durch Anzeige – sondern dadurch, dass sie selbst losfährt und kontrolliert. Zum Beispiel bei einer Razzia im Drogenmilieu. Viele Male hatten der Kokain-Konsument und sein Dealer Glück, doch irgendwann erwischt sie eine Streife. Der Deal an diesem Tag findet den Weg in die Polizeistatistik.

Razzien in Clan-Milieus treiben die Zahlen in der Statistik nach oben

Was hier verdrängt wird: Ob und wie stark eine Polizei bestimmte Straftaten verfolgt, ist nicht selten eine politische Entscheidung. Prominentes Beispiel: Clan-Razzien in Shisha-Bars bestimmter Stadtviertel. „Clans“ sind ein Dorn im Auge mancher Nachbarn, und damit auch mancher Innenpolitiker und Minister. Also legt die Polizei los – und je mehr sie kontrolliert, desto häufiger findet sie Täter. Die Statistik steigt – und fällt wieder, wenn der Kontrolldruck nachlässt.

Innenpolitiker Fiedler sagt: „Die Zahlen zu Umweltverbrechen sind jedes Jahr gering. Das liegt aber nicht daran, dass kaum Straftaten gegen die Natur stattfinden, sondern nur daran, dass in den Ländern die Polizei und die Naturschutzbehörden nicht mit ausreichend Ressourcen ausgestattet sind, um mehr zu ermitteln.“

Frpher bei der Kriminalpolizei, heute im Bundestag für die SPD: Sebastian Fiedler.
Frpher bei der Kriminalpolizei, heute im Bundestag für die SPD: Sebastian Fiedler. © dpa | Rolf Vennenbernd

Was der Polizei angezeigt wird und was sie selbst durch Kontrollen erfährt, ist also zufällig oder willkürlich, mindestens aber stark beeinflussbar. Es ist nur das sogenannte „Hellfeld“ der Kriminalität, das die Polizei kennt.

Doch sind alle Straftaten in der Polizeistatistik überhaupt passiert, wenn die Polizisten eine oder einen Tatverdächtigen ausmachen? Das entscheidet nicht die Polizei – sondern ein Gericht. Und das kann Tatverdächtige freisprechen. Sie sind dann noch in der Polizeistatistik – aber vielleicht stellte ein Gericht später fest, dass die angebliche Körperverletzung aus einer Notwehrlage heraus passiert ist. Wenn Innenministerin Faeser heute die neue Jahresbilanz vorstellt, kann sie gar nicht wissen, wie die einzelnen Straftaten der Statistik am Ende vor Gericht entschieden wurden. Und wie oft sie mit Freispruch endeten.

Was passiert mit einem Tatverdächtigen, wenn die Polizei den Fall ermittelt hat?

So gibt es Untersuchungen darüber, dass die Polizei Sachverhalte tendenziell eher gravierender einstuft, als ein Gericht am Ende urteilt. Während die Polizei den Tatverdächtigen noch verantwortlich für eine schwere Körperverletzung sah, sieht der Richter im Prozess nur noch Belege für eine einfache Körperverletzung. Auch diese juristische Korrektur fehlt in der Polizeistatistik.

Cyberkriminalität betrifft Tausende Menschen in Deutschland – doch nur wenige erstatten Anzeige bei der Polizei.
Cyberkriminalität betrifft Tausende Menschen in Deutschland – doch nur wenige erstatten Anzeige bei der Polizei. © dpa | Sina Schuldt

Fachleute wie der Kriminologe Singelnstein oder SPD-Mann Fiedler fordern daher sogenannte „Verlaufsstatistiken“ als Ergänzung zur PKS. „Das bedeutet, dass Fälle von den ersten Ermittlungen bei der Polizei über den Prozess bei Gericht, den Strafvollzug und die Bewährungshilfe im Anschluss nachverfolgt und verglichen werden könnten“, sagt Singelnstein. „So sehen wir Entwicklung von Kriminalität und auch die Reaktionen der Institutionen auf Kriminalität besser.“ Der Haken: Diese Verlaufsstatistiken gibt es bisher nicht, denn die Erstellung ist immens aufwendig. Und die Datentöpfe von Polizei, Gericht, Bewährungshilfe sind schon innerhalb eines Bundeslandes oft nicht kompatibel.

Andere Versuche, die Kriminalität zu messen, sind Befragungen von Opfern. In Deutschland lange ein kaum beachtetes Forschungsfeld – anders als in den USA oder Großbritannien – gibt es nun einige Studien.

Tücken beim Messen: Forschende sprechen von einem „doppelten Dunkelfeld“

Helfen soll auch Studien zur Furcht vor Kriminalität und Dunkelfeldforschung, also Befragungen und Interviews durch Sozialwissenschaftler, die so besser erfassen wollen, wie häufig Straftaten in einem bestimmten Stadtviertel oder innerhalb einer ausgemachten sozialen Gruppe stattfinden. Die Idee: Dann könnte eine Befragte ja berichten, dass ihr vier Mal das Fahrrad in den vergangenen zwei Jahre gestohlen wurde, obwohl sie nur einmal Anzeige bei der Polizei erstattet hat.

Diese Studien helfen, doch auch sie bergen Risiken und Ungenauigkeiten. So sprechen Forscher vom „doppelten Dunkelfeld“, wenn Menschen in Fragebögen falsche Antworten geben, aus Angst vor Sanktionen, aus Scham. Oder sie antworten so, wie sie meinen, dass es sozial erwünscht ist zu antworten. Und schon ein Fragebogen oder eine Interview-Situation zu Kriminalität kann einen Menschen in gedankliche Alarmbereitschaft versetzen – und auf einmal wächst die Angst, Opfer von Kriminellen zu werden von Frage zu Frage.

Fordert umfassende Sicherheitsberichte: Grünen-Expertin Irene Mihalic.
Fordert umfassende Sicherheitsberichte: Grünen-Expertin Irene Mihalic. © dpa | Christophe Gateau

Die Tücken bleiben – im Hellfeld wie im Dunkelfeld der Kriminalität. Innenexpertin Mihalic plädiert zum einen dafür, die Polizeiliche Kriminalstatistik noch weiter zu verbessern. „Nur ein Beispiel: Bei einer Gewalttat mit Pistole, wissen wir laut PKS nicht einmal, ob die Waffe legal oder illegal im Besitz des Täters war.“ Das ist eine brisante Frage, die am Ende eine Debatte über ein schärferes Waffenrecht beeinflussen kann, wie sie aktuell nach den Razzien bei Reichsbürgern geführt wird.

Einfluss auf Polizeistatistik: „Anzeigeverhalten“ und „Kontrollintensität“

Zugleich fordern Fachleute wie Mihalic und Fiedler umfassendere Sicherheitsberichte, die über die Statistik hinausgehen. Das Bundeskriminalamt und andere Sicherheitsbehörden geben bereits regelmäßig „Lagebilder“ heraus, die sich etwa auf Wirtschaftskriminalität oder Organisierte Banden spezialisieren. SPD-Politiker Fiedler sagt: „Ein großes Lagebild zur Sicherheit hilft vor allem dann, wenn die Expertise der Wissenschaft stärker eingebunden wird und zusätzliche Bereiche aufbereitet werden.“ Auch die Lage von Opfern, die Prävention und Gefahrenlagen wie etwa die Gefährlichkeit von gewaltbereiten Extremisten müssten eine stärkere Rolle spielen.

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Gleich zu Beginn der Polizeilichen Kriminalstatistik ist es das BKA selbst, dass sehr umfangreich schreibt, wie die Bilanz erstellt wurde, was sie misst – und was nicht. Das BKA geht auf „Anzeigeverhalten“ ein, auf „Kontrollintensität“ und eine „mehr oder weniger genaue Annäherung an die Realität“. Es sind wichtige einschränkende Worte der Ermittler zu ihrer jährlichen großen Kriminalitätsbilanz. Beachtet aber werden sie nur selten. Der Blick geht meist sofort auf die Zahlen.