Schwalmstadt. Gewalt an Frauen in Partnerschaften wird oft als „Familiendrama“ verharmlost. Doch dahinter steht mehr. Das zeigt der Fall von Irina G.

Der Tod von Irina G. flackert einmal auf, erschüttert und bewegt – und dann verschwindet ihr Leben ganz leise, wird vergessen. Wie so viele andere. Genauso wie die Statistik, in die Irina G. nun einfließt.

Ende vergangenen Jahres war es wieder so weit. Die damalige Familienministerin Christine Lambrecht hält in Berlin ein Schild in die Fernsehkameras. Die Nummer des „Hilfetelefons“. Frauen sollen anrufen, wenn Partner oder Ex-Partner sie schlagen, bedrohen, vergewaltigen.

Zum Hilfe-Schild präsentiert die Ministerin die aktuelle Zahl: 146.655 Fälle von Gewalt in Beziehungen registriert die Polizei 2020, ein Anstieg um fünf Prozent zum Vorjahr. Und: Männer töten in diesem Jahr 139 Frauen.

Statistisch gesehen versucht jeden Tag irgendwo in Deutschland ein Mann, seine Partnerin oder Ex-Partnerin umzubringen. Jeden dritten Tag überlebt das Opfer nicht.

Als Lambrecht die Zahlen vorstellt, machen Meldungen die Runde. „Mehr Gewalt in Beziehungen“, titelt ein Sender. „Wenn Alltag zum Albtraum wird“, die Deutsche Welle. In den Tagen danach wird es wieder still, die Meldungen verblassen.

Der Ex-Freund ist mit einer Pistole bewaffnet

Auf dem Bürgersteig vor dem Parkplatz vertrocknet das Gedenken an Irina G. in der Hitze der Juli-Sonne. Die Blumen, die Menschen hier auf die roten Ziegel des Fußwegs gelegt haben, dörren wie das Gras neben dem Asphalt. Viele der Grabkerzen sind längst erloschen, ein Flämmchen brennt tapfer weiter. Nur die Rosen aus Plastik blühen noch rot. „Es bleibt die Erinnerung“, steht auf einem silbernen Herzen. Aber bleibt sie wirklich?

Menschen schieben Einkaufswagen zu ihren Autos, der Aldi-Supermarkt hier im kleinen Schwalmstadt, gut 50 Kilometer südlich von Kassel, bietet gleich hinter der Schiebetür Spezialdünger im Angebot, daneben Hefeweizen in Dosen. Keine Spur mehr von der brutalen Gewalttat, bei der Irina G. ein paar Wochen zuvor ihr Leben verlor. Eine Discounter-Mitarbeiterin verweist an die Pressestelle. Darüber reden will hier niemand.

Einen Monat zuvor, am 7. Juni gegen 13 Uhr, rettet sich Irina G. vom Parkplatz, wo ihr Wagen steht, noch in den Eingangsbereich des Aldi-Marktes, ruft um Hilfe. Ihr Mörder, ein 58 Jahre alter Mann aus dem Raum Osnabrück, hat sie auf dem Parkplatz abgefangen, folgt ihr. In der Filiale postiert sich der Leiter des Supermarktes noch vor G., will sie schützen. Doch der Ex-Freund ist bewaffnet, eine Pistole des belgischen Herstellers Fabrique Nationale.

Irina G. tat alles, was Frauen in Bedrängnis geraten wird. Es half ihr nicht

Irina G., bei ihrem Tod 53 Jahre alt, lebte noch nicht lange in Hessen, sie war aus Nordrhein-Westfalen hierhergezogen, Wurzeln hat ihre Familie in Russland. Nun wohnte sie zur Miete im Erdgeschoss eines dreistöckigen Hauses in einer feinen Wohngegend. Sie liegt auf einem Hügel, am Rand von Schwalmstadt.

Eine Nachbarin steht mit ihrem kleinen Kind in ihrem Hausflur. „Ich kann nichts Schlechtes über sie sagen“, erzählt die junge Mutter. Man habe nicht viel geredet, aber immer mal wieder am Zaun kurz „gequatscht“. Meist über die Familie. „Sie hat immer von ihren Enkelkindern erzählt, wenn wieder was passiert ist – dass der Kleine Fahrradfahren gelernt hat oder beim Planschen am Fluss ins Wasser gefallen ist und nass wurde.“ Nachbarschafts-Small-Talk. „Irina hat sich nie beschwert." Ein toller Mensch, der immer gefragt habe, ob alle gesund seien.

Öfter habe die Nachbarin frühmorgens schon das Licht brennen gesehen in der Wohnung von Irina G. „Sie arbeitete viel.“ Offenbar in der Pharmabranche. Am Wochenende sei sie oft zu ihren Kindern gefahren.

Im vergangenen Herbst lernt Irina G. ihren späteren Mörder kennen, über die Datingplattform Mamba. So werden es die Ermittler später rekonstruieren. Schon nach ein paar Monaten, im Februar 2022, trennt sich Irina G. wieder von ihm. Er aber will das nicht akzeptieren, ruft sie weiter an, schreibt Nachrichten über WhatsApp. Und der Mann sucht Irina G. zu Hause auf, fährt mehrfach die 200 Kilometer nach Schwalmstadt. Steht vor ihrer Tür.

Kerzen der Trauer auf dem Supermarktparkplatz.
Kerzen der Trauer auf dem Supermarktparkplatz. © Christian Unger | Christian Unger

Am Abend vor ihrem Tod, um etwa 19 Uhr, setzt Irina G. einen Notruf ab. Er ist wieder da. Offenbar unangekündigt wolle er ein paar letzte persönliche Sachen abholen, Reisepass, Kleidung, Hygieneartikel. So hält es die Polizei später im Einsatzbericht fest. An dem Abend treffen die Beamten den Ex-Freund im Hausflur an. Offenbar hatte er noch einen Schlüssel für die Haustür, aber nicht für die Wohnungstür.

Die Beamten sprechen mit der Frau offenbar darüber, dass sie eine Anzeige stellen könne. Irina G. wolle dies am nächsten Morgen tun. Der Polizeieinsatz endet mit einem Platzverweis für den Mann. Straftaten stellen die Polizisten nicht fest. Nach 20 Minuten fahren die Beamten wieder ab. Wo sich der Ex-Freund von Irina G. in dieser Nacht aufhält und wen er trifft, bleibt unklar.

Am Tag danach, dem 7. Juli gegen 13 Uhr, schießt er im Bereich zwischen den Kassen und dem Eingang des Aldi-Markts vier Mal auf Irina G. Sie stirbt. Dann tötet er sich mit einem Kopfschuss selbst.

Man kann sagen, dass Irina G. alles richtig gemacht hat. So wie es Politikerinnen wie Lambrecht und Polizisten immer allen raten: Schlagt Alarm, wenn ihr von Männern bedroht werdet! Ruft die Polizei! Erstattet Anzeige! All das hat Irina G. getan. All das hat ihr nicht geholfen.

Einige Männer setzen Beziehung mit Besitz gleich

Gewalt in Partnerschaften, so haben es Kriminologinnen und Kriminologen erforscht, passiert in allen Schichten, egal, ob arm oder reich, Stadt oder Land, in jedem Alter. Immer geht es darum, dass Macht in einer Beziehung missbraucht wird – selten durch die Frau, sehr häufig durch den Mann. Er spricht ihr das Recht auf eigene Entscheidungen, am Ende das Recht auf ein eigenes Leben, ab. Weil sie eine Frau ist. Eine Beziehung setzen Täter mit „Besitz“ gleich.

Oft, sagen Fachleute, ist ein Femizid nicht spontan, sondern lange geplant. Derzeit ermittelt die Staatsanwaltschaft Marburg, woher der Mörder von Irina G. die belgische Pistole und die Munition hatte. Eine Waffenerlaubnis besaß er nicht. 2007 war die Pistole in Niedersachsen als vermisst gemeldet worden – es ist eine erste Spur der Ermittler, um Hintergründe des Falls aufzuklären.

„Die meisten Fälle werden der Polizei gar nicht bekannt“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle. Schröttle koordiniert das European Observatory on Femicide (EOF), eine europaweite Forschungszusammenarbeit, die Daten sammelt und Analysen vornimmt zu Tötungen von Frauen, weil sie Frauen sind.

Irina G. hat das gemacht, was Studien zufolge nur wenige Betroffene tun: Sie hat ihren „Ex“ angezeigt. Studien gehen davon aus, dass nur etwa jedes zehnte Opfer sexualisierter Gewalt zur Polizei geht. Am Morgen des 7. Juli betritt Irina G. die Polizeistation in Schwalmstadt. Der Tatvorwurf der Anzeige: Stalking, Körperverletzung und Nötigung.

Am Morgen des 7. Juli, um kurz vor 9 Uhr, betritt Irina G. die Polizeistation in Schwalmstadt. Tatvorwurf der Anzeige: Stalking, Körperverletzung und Nötigung. Eine Polizistin notiert, wie Irina G. davon berichtet, dass ihr Ex-Freund sie verfolge. Einmal, im April, soll er auch gewalttätig geworden sein, habe Irina G. den Arm auf den Rücken gedreht. Ob sie bedroht worden sei, fragt die Beamtin. Irina G. soll dies verneint haben. Der Mann habe eher gedroht, sich selbst etwas anzutun, wenn sie nicht zu ihm zurückkehre.

Eine Trennung gilt als „Risikofaktor“ für Gewalt

Den Entschluss von Irina G., sich von ihrem Freund zu trennen, nennen Kriminologen einen „Risikofaktor“ für Gewalt. Die Trennung kann Aggressionen beim Verlassenen auslösen. Verliert er die Kon­trolle über sein Verhalten, ist die Ex-Partnerin in Gefahr. Die Gewalt an Frauen in Partnerschaften wird oft als „Familiendrama“, als „Tragödie“ oder „Beziehungstat“ verharmlost. Von einem Mord an einer Frau, einfach nur weil sie eine selbstbestimmte Frau ist, ist selten die Rede.

Dabei gibt es ein Wort: Femizid – die Tötung einer Frau aufgrund ihres Geschlechts. Weil der Mann die Frau nicht als eigenständig, nicht als gleichwertig betrachtet. Bis heute scheuen sich viele Politiker und ranghohe Polizisten, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Auch Staatsanwälte und Ermittler im Fall von Irina G. nennen die Tat nicht „Femizid". Mehr zum Thema: Frauenrechte und Co.: Spanien wird zum progressiven Vorbild

Seit Jahren ist die Zahl der Femizide in Deutschland hoch. 2016 waren es 155, 2018 dann 122, nun wieder mehr. Anders als noch vor einigen Jahrzehnten gebe es zwar inzwischen ein Bewusstsein dafür, dass Gewalt gegen Frauen ein gravierendes Problem ist, sagt Forscherin Schröttle. Doch das allein ändert nichts. „Man behandelt es ein bisschen wie eine Dauerkatastrophe, an die man sich gewöhnt hat.“

Im Fall von Irina G. macht die Polizei keine Angaben zu den laufenden Ermittlungen. Die Staatsanwaltschaft sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass die Polizisten Fehler gemacht hätten – oder gar Irina G. besser hätten schützen müssen. Am Morgen, kurz vor der Tat, soll die Beamtin auf der Wache Irina G. beraten haben. Wie genau, ist unklar.

Das hessische Landeskriminalamt gibt auf Nachfrage nur an, dass in einer „polizeilichen Verhaltensberatung“ die Situation eines möglichen Gewalt­opfers geprüft werde. Die Beamtin gebe Hinweise, wie sich ein Mensch schützen könne, es gebe auch eine Broschüre, einen eng bedruckten Zweiseiter. Bei Anrufen des „Ex“ – sofort auflegen, steht dort. Kommt er auf der Straße näher, „gehen Sie in das nächste Geschäft“.

Nach dem Gewaltschutzgesetz kann eine Frau auch einen Antrag beim Familiengericht stellen. Dem Mann wird dann gerichtlich verboten, sich der Partnerin oder Ex-Partnerin zu nähern, eine „einstweilige Verfügung“.

Sogar eine „Gefährderansprache“ könne die Polizei machen. Also einem Partner, der dem anderen Partner Gewalt androht, aufsuchen. Die Beamten wollen so die Gefahr besser einschätzen – und möglicherweise auch Therapieangebote für potenzielle Täter vorschlagen. Die Polizei macht diese „Ansprachen“ auch bei gewaltbereiten Islamisten oder Neonazis.

Ist ein Mensch nach Ansicht der Polizei konkret in Gefahr, greife das „Hochrisikomanagement für Gewalt im sozialen Nahraum“. Als Maßnahme könnte eine Frau in ein betreutes Frauenhaus ziehen. So weit die Theorie.

Juristinnen kritisieren, dass Fälle of nur als Totschlag gewertet werden

In der Praxis beklagen Fachleute seit Jahren fehlende Plätze bei Beratungsstellen und Frauenhäusern. Oft sind die Einrichtungen auf Kante finanziert, zusammengestückelt aus Mitteln von Ländern, Kommunen, Spenden, häufig zahlen die Betroffenen für ihren Aufenthalt selbst. Sofern sie einen Platz bekommen im Frauenhaus – immer wieder müssen Schutzsuchende abgewiesen werden. „Es muss viel mehr Geld ins Unterstützungssystem“, sagt etwa Katharina Göpner, Geschäftsführerin des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland (BFF).

Als vorbildhaft gilt ein Projekt in Rheinland-Pfalz. Schon früh, im Jahr 2000, fördert die dortige Landesregierung den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen. In diesem Jahr mit knapp sechs Millionen Euro. Konzepte schauten sich die Fachleute aus der Schweiz und Großbritannien ab. „Fallkonferenzen“ mit Polizisten, Mitarbeitenden aus Jugendämtern und Frauenhäusern, aber auch aus der Justiz stehen im Mittelpunkt, um eine Eskalation der Gewalt in Partnerschaften zu verhindern.

Andere Bundesländer haben vieles aus Rheinland-Pfalz übernommen. Und doch: Auch das Bundesland konnte die Zahl der Femizide in den vergangenen Jahren nicht zurückdrängen. Mehr zum Thema: Gewalt gegen Frauen: Grüne wollen Frauen besser schützen

Und es geht nicht nur um Geld, sondern auch um Worte. Der Deutsche Juristinnenbund kritisiert, dass die Tötungsdelikte an Frauen durch Ex-Partner häufig nicht als Mord, sondern als Totschlag verurteilt würden. Der Grund: Gerichte werten den „Wunsch des Täters“, über das Leben der Frau zu bestimmen, als „vulnerablen emotionalen Zustand“. Für Mord aber braucht es niedrige Beweggründe.

Immerhin: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) will das Strafgesetzbuch ändern. Es geht um Paragraf 46. Er legt fest, was Gerichte bei der Höhe der Strafe berücksichtigen müssen. Handelt ein Täter etwa aus rassistischen oder antisemitischen Motiven, wirkt das schon jetzt strafverschärfend. Laut Buschmanns Gesetzentwurf soll Paragraf 46 bald um „geschlechtsspezifische“ und „gegen die sexuelle Orientierung gerichtete“ Beweggründe ergänzt werden.

„Für mich ist klar: Gewalttaten von Männern gegen Frauen dürfen nicht als ‚private Tragödien‘ oder ‚Eifersuchtsdramen‘ bagatellisiert werden“, sagt Buschmann unserer Redaktion. „Geschlechtsspezifische Gewalt muss als solche benannt und mit der gebotenen Strenge bestraft werden.“ Wer aus „männlichem Besitzdenken Frauen angreift, handelt unserer Werteordnung in besonders eklatanter Weise zuwider“, hebt der FDP-Minister hervor.

Einige Fachleute prognostizieren nicht, dass Gerichte nun massenhaft Täter zu höheren Strafen verurteilen. Und doch werten viele den Vorstoß der Bundesregierung als wichtiges Signal an die Justiz, genauer bei den Motiven der Täter hinzuschauen. Hessen, dort, wo Irina G. erschossen wurde, gibt an, dass es für die Polizistinnen und Polizisten „Merkblätter“ und „Checklisten“ zu Gewalt in Partnerschaften für den Einsatz und an der Hochschule „Fortbildungen“ zu dem Thema gebe.

Auf dem Hügel über Schwalmstadt blickt die Nachbarin auf das Grundstück von Irina G. Manchmal, wenn sie ihre kleine Tochter zur Kita bringt, sagt sie noch: Da wohnt Irina. „Das ist dann schon komisch“, sagt die Mutter. Es sei traurig, dass nun niemand mehr über diese Tat spreche. Dass Irina G. langsam vergessen werde.

Zur Erdgeschosswohnung von Irina G. gehört ein kleiner Garten. Dort stehen noch ein Vogelhäuschen und eine Kinderschaukel, ein paar Gartenzwerge auf dem Rasen und eine Bank an der Hauswand. Und mitten auf der kleinen Terrasse stehen nun alte Möbel, Regale aus weißem Holz, kleine Schränke mit Schubladen, ein Stuhl. Jemand hat die Räume der Wohnung von Irina G. leergeräumt.

Am Vormittag des 7. Juni, nachdem sie die Anzeige von Irina G. aufgenommen hatte, soll die Polizistin in Schwalmstadt noch ein Fax mit dem Sachverhalt verschickt haben, routinemäßig. Es geht in Fällen von Gewalt in Partnerschaften an die Gerichtshilfe des Landgerichts Marburg. Binnen kurzer Zeit, am besten in den Tagen danach, sollen die Fachleute der Gerichtshilfe zu dem Opfer der Übergriffe Kontakt aufnehmen. Dazu kommt es nicht mehr. Ein paar Stunden später ist Irina G. tot.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.