Berlin. Seit 2021 gilt ein schärferes Gesetz gegen Kindesmissbrauch. Doch das bringt Ermittler ans Limit – und trifft auch oft die Falschen.

Es beginnt mit einem Kuss. Sie, die am nächsten Tag 14 Jahre alt wird, macht ein Fest mit Freunden, feiert rein. Er, schon 22, ist auch eingeladen. Später am Abend, noch vor Mitternacht, küsst er sie, intensiv. Es ist der Beginn einer Beziehung, die lange dauern wird. Der Junge und das Mädchen, jetzt eine junge Frau, heiraten sogar. Doch zwei Jahre später beginnt ein Scheidungskrieg – und die Frau erstattet Anzeige gegen den Mann. Wegen des Kusses bei ihrer Party. Tatvorwurf: Sexueller Missbrauch von Kindern.

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Der Fall klingt banal – zugleich berührt er ein rechtlich brisantes Thema: den Schutz von Kindern. Das Verfahren wurde damals eingestellt. So schildert es ein Münchner Amtsrichter, der die Tat in seinem Gerichtssaal verhandelt hatte. Doch seit 2021 geht das nicht mehr so einfach. Das Sexualstrafrecht sieht seitdem eine Mindeststrafe vor: ein Jahr Freiheitsstrafe, der Mann begeht ein Verbrechen.

Ermittler werten in Verfahren gegen Pädokriminelle Tausende Handys und Computer aus. Immer häufiger landen auf den Tischen der Staatsanwälte auch Handys von Jugendlichen.
Ermittler werten in Verfahren gegen Pädokriminelle Tausende Handys und Computer aus. Immer häufiger landen auf den Tischen der Staatsanwälte auch Handys von Jugendlichen. © dpa | Arne Dedert

Der Münchner Richter hat nun eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht, die unserer Redaktion vorliegt. Ist das Gesetz noch verhältnismäßig? Ist die 2021 von der Großen Koalition beschlossene Verschärfung des Sexualstrafrechts verfassungskonform? Das will der Richter von höchster Stelle prüfen lassen.

Richter und Staatsanwälte fordern: Das Sexualstrafrecht muss reformiert werden

In seinem Schreiben entwirft er noch ein Szenario: Hätte ein Gast auf der Geburtstagsparty ein Foto von dem Kuss auf dem Handy geschossen, hätte er „Kinderpornografie“ hergestellt und fortan besessen. Angenommen, im WhatsApp-Chat zur Geburtstagsfeier teilt der Gast das Handy-Bild, schreibt dazu: „Ein Kuss kurz vor dem 14. Geburtstag“ – rechtlich verbreitet er Kinderpornografie. Mindeststrafe auch hier seit 2021: ein Jahr.

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Unsere Redaktion hat mit Anwälten, dem Richterbund und Staatsanwälten gesprochen. Der Tenor ist eindeutig: Das Sexualstrafrecht muss korrigiert werden. Denn die Mindeststrafe von einem Jahr trifft nach Ansicht der Fachleute zu oft die Falschen. Noch schlimmer: Auch wenig gravierende Fälle können nicht mehr einfach eingestellt werden – und fressen bei Polizei und Justiz wichtige Ressourcen im Kampf gegen pädokriminelle Netzwerke.

Lügde, Münster, Bergisch Gladbach: Namen von Orten, die für brutale Verbrechen gegen Kinder stehen. Die Taten führten zu einer politischen Debatte und am Ende zur Gesetzesverschärfung 2021.
Lügde, Münster, Bergisch Gladbach: Namen von Orten, die für brutale Verbrechen gegen Kinder stehen. Die Taten führten zu einer politischen Debatte und am Ende zur Gesetzesverschärfung 2021. © dpa | Federico Gambarini

„Staatsanwaltschaften und Gerichte müssen sich mit einer Flut von Fällen befassen, die eigentlich nicht vor die Strafgerichte gehören“, sagt der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Sven Rebehn, unserer Redaktion. So können sich etwa Eltern, Lehrerinnen oder Schüler wegen eines Verbrechens strafbar machen, die Fotos oder Videos von mutmaßlicher Kinderpornografie etwa in Chatgruppen weiterleiten – eigentlich nur, um darauf hinzuweisen und zur Vorsicht zu mahnen. Um aufzuklären.

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Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet von einem Fall, in dem ein früheres Missbrauchsopfer in den Fokus der Polizei geriet, weil sie Fotos ihres Peinigers auf dem Handy gespeichert hatte, die er ihr geschickt hatte. Es waren Beweismittel – aber auf einmal nicht mehr nur gegen den mutmaßlichen Vergewaltiger.

Die Fachanwältin Manon Heindorf erzählt: „Bei mir sitzen oft Schüler und ihre Eltern, weil in einer Gruppe der Klasse Bilder geteilt wurden, die Kinder in sexuellen Posen zeigen – und dann schaltet jemand in der Schule oder in anderen Familien der Klasse die Polizei ein.“ Diese Eltern, aber auch junge Menschen müssten nun mit harten Strafen rechnen, obwohl sie kein Ziel und Interesse hätten, Kinderpornografie zu verbreiten.

Staatsanwältin: „Wir nennen es digitale Naivität“

Die Staatsanwältin Julia Bussweiler arbeitet bei der Zentralstelle zur Bekämpfung von Internetkriminalität in Frankfurt, hat mehrere große Verfahren gegen organisierte Netzwerke von Kindesmissbrauch geführt. Auch sie sagt: „Die Anhebung der Strafuntergrenze bei Besitz und Verbreiten von Kinderpornografie ist kontraproduktiv, es geht am Ziel des Gesetzes vorbei: die schweren Sexualstraftäter härter zu verfolgen.“

Stattdessen seien die Ermittler „massiv belastet“ mit Fällen von Schulhof-Kids, die in einer Chatgruppe ein kinderpornografisches Bild geteilt haben. „Nicht, weil sie Kindesmissbrauch verherrlichen, sondern weil sie naiv sind“, sagt Bussweiler. „Wir nennen es digitale Naivität.“

Die Folgen von Missbrauch sind für die Kinder oft dramatisch. Viele sind ihr Leben lang traumatisiert.
Die Folgen von Missbrauch sind für die Kinder oft dramatisch. Viele sind ihr Leben lang traumatisiert. © dpa | Nicolas Armer

2021 beschloss die Große Koalition die Verschärfung, damals entlang der Debatte um die schweren Fälle von Kindesmissbrauch. Lügde, Münster, Bergisch Gladbach – es sind Namen, die mit brutaler Gewalt an Kindern verbunden sind. Netzwerke von Tätern missbrauchten Hunderte junge Menschen. Die Politik sah sich unter Druck. Das Gesetz sah damals eine Mindeststrafe von sechs Monaten vor, ein Vergehen. Die Regierung wollte mit mehr Gesetzeshärte auch ein Signal gegen Täter senden.

Fachleute: Manche Verfahren erstrecken sich über Jahre

Nun aber gibt es keine Bagatelldelikte mehr, jeder Fall ist per Gesetz ein Verbrechenstatbestand. Mit Folgen, wie die Fachanwältin Jenny Lederer beschreibt. „Es gibt keine Möglichkeit einer Einstellung wegen geringer Schuld“, sagt Lederer, die auch Mitglied im Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltsvereins ist. Genauso ist es nicht möglich, dass ein Richter ein Strafbefehl ohne Gerichtsverfahren erlässt. Ein Verbrechen sieht das nicht vor, genauso wenig eine Geldstrafe, sagt Lederer. Jeder Fall muss verhandelt werden, der Beschuldigte braucht einen Pflichtverteidiger. Fachleute aus der Justiz berichten, dass sich manche Verfahren über Jahre erstrecken.

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Aber gibt es „harmlose“ Fälle im Sexualstrafrecht? Die Ermittler sehen einen Trend: Immer häufiger sind die Tatverdächtigen selbst noch Kinder und Jugendliche. Laut Bundeskriminalamt (BKA) sind die Fälle von Besitz und Verbreitung von Kinderpornografie bei unter 18-Jährigen in den vergangenen Jahren drastisch angestiegen: von 1373 Fällen 2018 auf 14.528 Tatverdächtige 2021.

Natürlich können Strafen zu Bewährung ausgesetzt werden. Und das Jugendstrafrecht erlaubt milde Strafen. Trotzdem bedeutet das auch für Bagatelldelikte: Ein verurteilter Heranwachsender oder junger Erwachsener ist vorbestraft.

Steht unter Handlungsdruck: Bundesjustizminister Marco Buschmann.
Steht unter Handlungsdruck: Bundesjustizminister Marco Buschmann. © AFP | KENZO TRIBOUILLARD

Die Fachwelt warnte schon damals die Bundesregierung vor dieser Verschärfung. Und mittlerweile sind die Stimmen laut, die eine Korrektur des Sexualstrafrechts fordern. Eine Korrektur „der 2021 drastisch verschärften Strafvorschriften gegen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie“ sei „dringend erforderlich“, sagt der Richterbund. Lederer vom Anwaltverein sagt: „Die Vorschriften müssen dringend wieder entschärft werden, um die Justiz zu entlasten und vor allem Betroffene in milderen Fällen nicht unnötig harsch zu kriminalisieren.“

Das Thema ist längst auf der Agenda der Ampel-Koalition. Bundestagsabgeordnete von SPD, Grünen und FDP erhöhen den Druck – auch auf Bundesjustizminister Marco Buschmann. „So machen sich Jugendliche, die einander Fotos von sich selbst schicken ausnahmslos wegen eines Verbrechens strafbar“, sagte die Obfrau der Grünen im Rechtsausschuss, Canan Bayram, unlängst dem Tagesspiegel. Damit verbaue man diesen Jugendlichen ihre Zukunft. Ähnlich äußern sich Rechtsexperten von SPD und FDP im Bundestag. Und schon im Herbst hatten sich Landesminister auf der Justizministerkonferenz für eine Reform der Reform ausgesprochen.

Fachanwältin: „Die Gesetzesverschärfung schreckt kriminelle Täter nicht ab“

Buschmanns Ministerium blicke nun auf das Sexualstrafrecht, heißt es auf Nachfrage unserer Redaktion. Man nehme die vermehrt geäußerten Bedenken „sehr ernst“. Man prüfe „gesetzgeberischen Handlungsbedarf“ und „mögliche Handlungsoptionen“.

Das klingt vorsichtig. Vor allem die Sorge vor einer falsch verstandenen Botschaft treibt die Ampel-Regierung um: Eine Korrektur des Gesetzes, eine Entschärfung der Mindeststrafe könnte zu Gegenwind führen – und hitzige Debatten auslösen. Schließlich will niemand Kinderschänder in Schutz nehmen. Selbst ein Zurück zum alten Gesetz wäre nur schwer zu kommunizieren. Aktuell basteln Rechtsexperten daran, wie das Dilemma gelöst werden kann – ohne gegen Täter zu sehr Milde walten zu lassen.

Doch genau dieser Kampf gegen kriminelle Netzwerke wird nach Ansicht von Strafverfolgern durch das verschärfte Sexualstrafrecht behindert. Zudem gilt: Die Gesetzesverschärfung schreckt kriminelle Täter nicht ab. „Wer Zehntausende pädophiler Dateien auf seinem Rechner hat, kommt ohnehin nicht mit einem Jahr Haft auf Bewährung davon“, sagt Anwältin Heindorf. Organisierte Netzwerke, die Kinder missbrauchen, gehen konspirativ vor, verschlüsseln oft ihre Kommunikation und auch die Server, auf denen die Daten mit Filmen und Fotos lagern. Zugleich sind viele Plattformen mit Darstellungen von Kindesmissbrauch im verschlüsselten Internet, dem Darknet, aktiv.

Nordrhein-Westfalen, Lügde: Auf dem Campingplatz Eichwald parkt vor der inzwischen eingezäunten Parzelle des mutmaßlichen Täters ein Polizeiauto. Die Ermittler im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach sind auf eine Querverbindung zum Fall Lügde gestoßen – es tut sich ein großes Netzwerk an Kriminellen auf.
Nordrhein-Westfalen, Lügde: Auf dem Campingplatz Eichwald parkt vor der inzwischen eingezäunten Parzelle des mutmaßlichen Täters ein Polizeiauto. Die Ermittler im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach sind auf eine Querverbindung zum Fall Lügde gestoßen – es tut sich ein großes Netzwerk an Kriminellen auf. © dpa | Guido Kirchner

Für Ermittler sind das aufwendige Verfahren, oftmals mit langwierigen Auswertungen von Handys und Computern durch die Kriminaltechnik. Ein Jugendlicher dagegen agiert nicht konspirativ, im Gegenteil. „Wenn sie das Handy eines jungen Menschen durchsuchen, weil es dort einen Verdacht auf Kinderpornografie gibt, finden sie dort 30 weitere Handynummern von Teenagern und jungen Erwachsenen, die auch strafbare Inhalte geteilt haben, Kinderpornografie oder Hakenkreuze oder volksverhetzende Sprüche“, sagt Staatsanwältin Bussweiler. Die Verfahren wachsen mit jeder Handydurchsuchung und „binden enorm viel Personal und technische Ressourcen, die an anderer Stelle im Kampf gegen Kindesmissbrauch fehlen“.

Verbreiten von Kinderpornografie: Expertin setzt auf Aufklärung von Kindern und Eltern

Theresia Höynck ist Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen. Auch sie kritisiert die Gesetzesverschärfung. „Wir müssen Verfahren auch unkompliziert einstellen können, auch im Rahmen von Einstellungen lassen sich zahlreiche sinnvolle Reaktionen wie Auflagen finden.“ Zugleich bedarf es Aufklärung bei Lehrkräften, Schülern und Eltern. „Zu nachlässig gehen viele Jugendliche und Eltern heute mit strafbaren Inhalten im Netz um. Diese Konflikte lösen wir nicht vor Gericht. Dafür brauchen die Menschen Wissen und Know-how im Umgang mit sozialen Medien.“

Eine Idee für eine Reform, die nun diskutiert wird: Der Gesetzgeber soll einen „minderschweren Fall der Kinderpornographie“ in einem Paragrafen verankern. Das könnte Fälle betreffen, in denen der Altersunterschied zwischen Täter und Betroffener nicht groß ist - oder die Betroffenen die Fotos oder Videos selbst angefertigt haben.

Bringt die Gesetzesreform aus 2021 die Justiz ans Limit? Viele Fachleute klagen, dass unter der Flut der weniger schweren Fälle die Ermittlungen gegen kriminelle Netzwerke leiden.
Bringt die Gesetzesreform aus 2021 die Justiz ans Limit? Viele Fachleute klagen, dass unter der Flut der weniger schweren Fälle die Ermittlungen gegen kriminelle Netzwerke leiden. © dpa | Rolf Vennenbernd

Denn die Folgen für junge Menschen, die vor der Reform mit einer Einstellung des Verfahrens rechnen konnten, können nach Einschätzung von Fachleuten nun gravierend sein. Staatsanwältin Bussweiler schildert den Fall eines 21 Jahre alten Jungen, der von seinem kleinen Bruder ein kinderpornografisches Foto aufs Handy geschickt bekommen hatte. Bei dem kleinen Bruder wurde das Verfahren eingestellt, es gab ein „erzieherisches Gespräch, Arbeitsstunden, ein Verzicht auf das sichergestellte Mobiltelefon und eine Aufklärung der Eltern“.

Der ältere Junge aber wurde angeklagt. Es droht nun ein Jahr Haft auf Bewährung. Staatsanwältin Bussweiler sagt: „Das kann ein Leben eines jungen Menschen zerstören: Mit dem Eintrag im Führungszeugnis zur Verurteilung wegen Besitzes von Kinderpornografie ist es vorbei mit dem Bewerben für eine Arbeitsstelle.“