Berlin. Frankreichs Präsident will das Renteneintrittsalter auf 64 erhöhen. Immer noch kein Vergleich zum deutschen System. Wie kann das gehen?

Der Präsident ließ an seiner Entschlossenheit keinen Zweifel. „So wie ich mich Ihnen gegenüber verpflichtet habe, wird dieses Jahr im Zeichen einer Rentenreform stehen“, sagte Emmanuel Macron. Es gehe darum, das System zukunftsfest zu machen – „für die kommenden Jahre und Jahrzehnte“.

Knapp drei Wochen ist das her. Frankreichs Staatschef nutzte ehedem seine Neujahrsansprache, um der Nation deutlich zu machen, dass er sich von nichts und niemandem von seinen Plänen abbringen lassen will. Inzwischen ist viel geschehen. Das Reformprojekt, das wegen der Corona-Pandemie schon einmal verschoben wurde, steht: Das gesetzliche Renteneintrittsalter soll bis 2030 von derzeit 62 Jahre schrittweise auf 64 Jahre steigen. Privilegien für einzelne Berufsgruppen will Macron schleifen. Lesen Sie dazu den Kommentar: Renteneintrittsalter: Das Gefälle in Europa ist ungerecht

Renten-Streit: Droht Präsident Macron jetzt ein neuer „Gelbwesten“-Streik?

Gewerkschaften und Oppositionsparteien laufen Sturm gegen das Vorhaben, welches Umfragen zufolge zwei Drittel der Franzosen ablehnen. Um es zu verhindern, wollen viele von ihnen jetzt auf die Straßen gehen: Für diesen Donnerstag ist ein erster landesweiter Protesttag mit Streiks und Demonstrationen geplant. Schon ist die Rede davon, dass dem Präsidenten und seiner Regierung eine Art neue „Gelbwesten“-Bewegung drohen könnte – so wie 2018/2019, als sich Proteste gegen steigende Kraftstoffkosten zu einem sozialen Aufstand ausweiteten, der das Land zeitweise lahmlegte.

Deutsche Rentner und Beitragszahler dürften sich allerdings verwundert die Augen reiben – oder aber neidisch nach Frankreich blicken.

Rente: Das gilt in Deutschland

Denn hierzulande ist die Rente mit 67 Jahren beschlossene Sache, ab 2031 soll dies das reguläre Alter für den Rentenbeginn sein. Schon jetzt steigt für jeden neuen Jahrgang die Grenze automatisch an. Für Arbeitnehmer, die 1957 geboren wurden und in diesem Jahr regulär in den Ruhestand gehen können, liegt die Altersgrenze bei 65 Jahren und 11 Monaten. Und regelmäßig wird darüber diskutiert, angesichts klammer Kassen und einer steigenden Lebenserwartung das gesetzliche Eintrittsalter noch weiter zu erhöhen. Zum Beispiel auf 70 Jahre.

Und in Frankreich gehen sie auf die Barrikaden, weil die Grenze von 62 auf 64 Jahre steigen soll?

In Frankreich plant die Regierung eine Rentenreform. Dieses Gewerkschaftsmitglied protestiert gegen ein höheres Renteneintrittsalter. „Retraite“ heißt auf Deutsch übersetzt „Ruhestand“ oder „Rente“.
In Frankreich plant die Regierung eine Rentenreform. Dieses Gewerkschaftsmitglied protestiert gegen ein höheres Renteneintrittsalter. „Retraite“ heißt auf Deutsch übersetzt „Ruhestand“ oder „Rente“. © AFP | THOMAS SAMSON

Der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen, der sich seit Jahrzehnten mit den Alterssicherungssystemen in Europa befasst, hat dafür kein Verständnis. „Die Franzosen sind noch großzügiger als die Deutschen. Das Rentenniveau ist höher, der Rentenzugang findet eher statt. Und leisten können sie sich das genauso wenig wie wir“, sagt der Rentenexperte im Gespräch mit unserer Redaktion. „Die Nachhaltigkeitslücken sind in Frankreich noch größer als in Deutschland. Und das treibt das System in den Ruin.“

Die Alten haben sich im Rentensystem eingerichtet – zu Lasten der Jungen

Ein deutscher Rentner oder älterer Arbeitnehmer werde vielleicht neidisch auf Frankreich blicken. Ein jüngerer Mensch aber ganz bestimmt nicht, ergänzt Raffelhüschen. „Es ist überall dasselbe. Die Alten haben sich das Rentensystem sehr komfortabel eingerichtet – zulasten der jüngeren und der mittleren Generation. Wenn die Politik endlich Reformen in Angriff nimmt, kommt es zu heftigen Verteilungskämpfen.“ Dabei sei das Einzige, was wirklich gegen die finanzielle Schieflage in den Rentenkassen und Probleme wie den Fachkräftemangel helfe, eine Erhöhung des Rentenzugangsalters bei einer gleichzeitigen Absenkung des Rentenniveaus, meint Raffelhüschen.

Frankreich hat im Grunde ähnliche Probleme wie Deutschland und andere Industriestaaten, wenn es um das Rentensystem geht. Auf mittlere Sicht werden immer mehr Rentner immer weniger Beitragszahlern gegenüberstehen. Zwar war die demografische Entwicklung in Frankreich in den vergangenen Jahrzehnten günstiger als Deutschland. Die Franzosen bekommen einfach mehr Kinder als ihre Nachbarn jenseits des Rheins – unter anderem, weil sich dank öffentlicher Betreuungsangebote Beruf und Familie besser unter einen Hut bringen lassen.

Unruhige Nacht in Frankreich- Gewaltsame Proteste gegen Rentenreform

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    Das Problem: Die Babyboomer gehen demnächst in Rente

    An dem Grundproblem ändert das aber nichts: Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer-Generation gehen absehbar in Rente, es kommen zu wenige Junge nach. Auch in Frankreich ist die Folge, dass das umlagefinanzierte Alterssicherungssystem zunehmend unter Druck gerät. Den Bestandsrentnern mag niemand ans Portemonnaie gehen. Also sollen die Arbeitnehmer länger im Job bleiben und länger Beträge zahlen.

    Die Regierung rechnet vor, dass ohne Reform im Jahr 2030 der Betrag von 13,5 Milliarden Euro in der Kasse fehlen würde. Kritiker der Reform entgegnen, dass dies kein exzessives Defizit sei: Man müsse das ins Verhältnis zu den 350 Milliarden Euro setzen, den die Rentenkasse jedes Jahr ausgibt. Es könne keine Rede davon sein, dass dem Rentensystem die Pleite drohe.

    Kürzere Arbeitszeit, mehr Rente, wie machen die Franzosen das?

    Die heutigen französischen Rentner bekommen deutlich mehr heraus aus dem gesetzlichen System als die deutschen Ruheständler. Das zeigen Daten der Industrieländer-Organisation OECD: Die so genannte Nettoersatzrate, die das Einkommen eines Rentners im Vergleich zum Verdienst während der Erwerbstätigkeit beschreibt, lag für einen männlichen Durchschnittsverdiener in Frankreich zuletzt bei etwas mehr als 74 Prozent und in Deutschland bei knapp 53 Prozent.

    Wird Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, seine Rentenreform durchbringen können?
    Wird Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, seine Rentenreform durchbringen können? © dpa | Ludovic Marin

    Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass in Frankreich die 25 Beitragsjahre mit dem höchsten Verdienst zur Berechnung der Rente herangezogen werden und nicht wie in Deutschland sämtliche Beitragsjahre – also auch solche mit geringem Verdienst.

    Grundsätzlich ist das französische Rentensystem deutlich komplizierter als das deutsche. Es gibt das allgemeine System inklusive Pflicht-Zusatzversicherung für die Arbeitnehmer. Vergleichbares existiert für die Landwirtschaft. Selbstständige und Freiberufler haben wiederum eigene Rentenkassen, die aber zum Teil in die allgemeine Rentenversicherung überführt werden.

    Französische Rentenbesonderheit: Spezialsysteme für einzelne Gruppen

    Eine Besonderheit sind darüber hinaus die zahlreichen Spezialsysteme für einzelne Berufsgruppen („régimes spéciaux“), die zum Teil mit beträchtlichen Privilegien einhergehen – weshalb Macron sie jetzt Zug um Zug abschaffen und ebenfalls in das allgemeine Rentensystem eingliedern will. Diese Sondersysteme sind älter als das allgemeine System. Wer davon profitiert, leistet in der Regel besonders heftigen Widerstand gegen Veränderungen. Es geht gerade einmal um 3,5 Prozent der Beitragszahler – für die der Staat aber pro Jahr sechs Milliarden Euro aufwenden muss.

    So gibt es etwa Sondersysteme für die Staatsbahn SNCF, die Pariser Nahverkehrsgesellschaft RATP, die Strom- und Gasbranche, für Beamte, Seeleute, Bergleute oder Angestellte der Pariser Oper. Jedes System funktioniert nach eigenen Regeln – was zum Beispiel dazu führt, dass Beschäftigte der Strom- und Gasbranche im Durchschnitt schon mit 60 Jahren in Rente gehen und solche der RATP mit knapp 59 Jahren. Allerdings hat es hier in der Vergangenheit bereits eine Annäherung an die allgemeine Rentenversicherung gegeben: Wer neu in den betroffenen Unternehmen anfängt, muss Abstriche hinnehmen gegenüber Kollegen, die schon länger dabei sind.