Moskau. Fieber, Schüttelfrost, Husten, keine Medikamente: Warum sich Ärzte um das Leben des inhaftierten Kreml-Kritikers große Sorgen machen.

„Seid ihr überhaupt Menschen?“, schreibt Julia Nawalnaja, die Ehefrau des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny, in einem dramatischen Appell an die Leitung der Strafkolonie in Melechowo, 260 Kilometer nordöstlich von Moskau. „Wenn ihr von der Arbeit kommt, erwarten euch doch zuhause wohl Eltern, Kinder. Was geht in euren Köpfen vor, wie lebt ihr, wenn ihr euch darüber freut, dass ihr absichtlich einen Menschen habt erkranken lassen, dass ihr ihn nicht pflegt und ihm keine Medikamente gebt?“

Alexej Nawalny scheint ernsthaft erkrankt. Sein Anwalt hatte bereits vor einigen Tagen kritisiert, sein Mandant, in eine Isolationszelle gesperrt, leide unter Fieber, Schüttelfrost und Husten. Medizinische Hilfe würde ihm verwehrt werden.

Alexej Nawalny Mehr zum Kreml-Kritiker

Angehörige, Freunde und politische Unterstützer sind besorgt. Auf Twitter schrieb Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch, er habe einen Gerichtstermin in Russland nicht wahrnehmen können, weil er zu krank dafür sei.

Nun steht Nawalny auch auf der „Liste der Terroristen und Extremisten“

Vor zwei Jahren kam Nawalny zurück nach Moskau. Unter nach wie vor ungeklärten Umständen vergiftet mit dem Nervengas-Kampfstoff Nowitschok wurde er in der Berliner Charité gesund gepflegt. Bei seiner Rückkehr, noch am Flughafen, wurde er festgenommen.

Neun Jahre muss Nawalny im Straflager bleiben, verurteilt wegen angeblichen Betrugs. Ein Urteil, das nicht nur für seine Anhänger ein politischer Skandal ist. Nawalny drohen immer neue Anklagen und Strafverfahren, seine Bewegung ist zerschlagen, ins Ausland vertrieben. Zuletzt wurde er in die „Liste der Terroristen und Extremisten“ aufgenommen. Die Klage dagegen verlor Nawalny. Er ist im Straflager unter „strengem Regime“. Das bedeutet Verschärfung der Haftbedingungen: weniger Besuche, weniger Briefe und Pakete, Verkürzung der täglichen Spaziergänge im Freien.

Strafzelle – er hatte sich zur falschen Zeit das Gesicht gewaschen

Im Juni 2022 wurde Nawalny in das Straflager IK-6 bei Melechowo verlegt. Dort ist er nach eigenen Angaben in einer eigens umzäunten Holzbaracke untergebracht, umgeben von verurteilten Mördern. Immer wieder kommt er in Isolationshaft wegen geringster Vergehen gegen die Lagerordnung. Am 9. Januar wurde bekannt, dass Nawalny zum zehnten Mal während seiner Haft 15 Tage in einer Strafzelle verbringen musste. Weil, so Nawalny, er sich zur falschen Zeit das Gesicht gewaschen hatte.

Alexej Nawalny hier bei einer Videoübertragung in einem Gerichtssaal, soll schwer erkrankt sein. Ärzte machen sich Sorgen um sein Leben.
Alexej Nawalny hier bei einer Videoübertragung in einem Gerichtssaal, soll schwer erkrankt sein. Ärzte machen sich Sorgen um sein Leben. © dpa | Alexander Zemlianichenko

Nawalnys Tochter, die 21-jährige Dascha Nawalnaja, schreibt im „Time Magazine“: „Seit Mitte August ist die ‚Wohnstätte‘ meines Vaters eine zwei mal zwei Meter große Strafzelle, die für einen zwei Meter großen Mann eher wie ein Betonkäfig aussieht. Er sitzt den ganzen Tag auf einem niedrigen Eisenstuhl (was die Rückenschmerzen verstärkt) und darf nur einen Becher mitnehmen. Sogar sein Bett ist von 6 bis 22 Uhr an die Wand geschraubt.“

Nawalnys Erscheinungsbild bereitet Ärzten Grund zur Sorge

Inzwischen haben russische Ärzte einen offenen Brief an Kremlchef Wladimir Putin geschrieben, in dem sie sich für eine Behandlung Nawalnys einsetzten. „Die Haftbedingungen und das äußere Erscheinungsbild von Alexej Nawalny bereiten uns große Sorgen um sein Leben und seine Gesundheit“, heißt es darin.

Laut dem unabhängigen Online-Medium „Meduza“ haben bereits 600 Mediziner diesen Brief unterschrieben. Darunter auch Ärzte, die in staatlichen Kliniken arbeiten. „Wir fordern ein Ende der Misshandlung von Alexej Nawalny.“

Ein Arzt sagt: „Ich bin 59 Jahre alt, ich habe es satt, Angst zu haben“

Der Kreml-Kritiker müsse von zivilen Ärzten untersucht und, wenn nötig, auch in ein ziviles Krankenhaus eingeliefert werden „Jeder Bürger der Russischen Föderation hat gemäß Artikel 41 der Verfassung der Russischen Föderation das Recht auf Gesundheitsversorgung und medizinische Versorgung“, so die Ärzte. Die Weigerung Nawalny notwendige Medikamente zu geben, „stelle eine direkte Bedrohung für das Leben von Alexei Nawalny, einem Bürger der Russischen Föderation, dar.“

Angst vor möglichen Repressalien haben die Unterzeichner des offenen Briefes offenbar nicht. Gegenüber „Meduza“ bringt es etwa der Transfusionsmediziner Mikhail Strimban auf den Punkt. „Ich bin 59 Jahre alt, ich habe es satt, Angst zu haben.“