Dnipro. Menschen mit Behinderung und Senioren können die umkämpften ukrainischen Gebiete nicht aus eigener Kraft verlassen. Doch es gibt Hoffnung.

Walentyna Pshechenko sitzt in ihrem bunten Morgenmantel auf einem Stuhl vor der Backsteinmauer und den Fenstern mit den blinden Scheiben, an ihren Füßen trägt sie Pantoffeln, die grauen Haare hat sie zu einem Dutt gebunden. Sie stützt sich auf ihren Stock, blinzelt in die warme Frühlingssonne und dann steigen ihr Tränen in die Augen, weil sie daran denkt, dass sie bald weit wegmuss und ihre Heimat vielleicht nie wieder sehen wird. „Die Ukraine ist doch das Land, in dem ich leben möchte“, sagt die 75-Jährige und wischt sich mit einer Hand über die Augen.

Vor dem Eingang des Gebäudes beobachten einige andere ältere Menschen die Szene. Manche sitzen in Rollstühlen. Wie Pshechenko haben sie schlimme Tage hinter sich. In der ehemaligen Geburtsklinik an der Shcherbanya-Straße in Dnipro sollen sie ein wenig zur Ruhe kommen.

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Ukraine: Die Menschen sind oft in einem schlimmen Zustand

„Die Menschen kommen in einem fürchterlichen Zustand hierher. Sie haben oft tagelang in zerstörten Wohnungen oder in Kellern leben müssen“, erzählt Olha Wolkawa aus dem Krieg. Die 57-Jährige ist die Leiterin der ukrainischen Hilfsorganisation „Ozean der Güte“. Zusammen mit „Handicap International“ aus Deutschland betreibt Wolkawa das Zentrum in dem zweigeschossigen Gebäude, das ihr die Stadt zur Verfügung gestellt hat.

An den Mauern gegenüber der früheren Geburtsklinik und auf Transparenten in den Bäumen stehen noch die Botschaften der Männer, deren Frauen hier früher entbunden haben, Danksagungen dafür, dass sie Kinder auf die Welt gebracht haben. Jetzt beherbergt der heruntergekommene Bau Menschen im Herbst ihres Lebens.

Diese Menschen haben im Ukraine-Krieg es besonders schwer

Es sind Menschen, die es besonders schwer haben, aus den Gebieten weiter im Osten oder im Süden der Ukraine herauszukommen, in denen die Kämpfe toben, die der russische Machthaber Wladimir Putin am 24. Februar begonnen hat. Sie sind die Vergessenen des Krieges.

„Sie können nicht laufen oder stehen und können nicht mit den Bussen oder Zügen herausgebracht werden“, erklärt Wolkawa. Manche der Älteren, die unter Behinderungen leiden, haben nicht einmal Rollstühle, weil die teuer sind, wenn man sie sich selbst kaufen muss. „Um als behindert zu gelten, muss man viele Dokumente ausfüllen. Das konnten oder wollten viele ältere Menschen vor dem Krieg nicht.“

Mit dem Ambulanzwagen in die umkämpften Gebiete

Deswegen versuchen Wolkawa und ihre Mitstreiter die Hilfsbedürftigen mit Ambulanzwagen aus den umkämpften Gebieten, aus den Regionen nahe Donezk, Luhansk, aus Kramatorsk, Charkiw oder Mariupol herauszuholen. Seit dem Beginn des Überfalls Russlands sind in ihrem Zentrum schon über 420 Menschen angekommen, darunter hin und wieder auch die Familienangehörigen der Senioren. „Sie dürfen auch ihre Katzen und Hunde mitbringen“, sagt die 57-Jährige.

Der Transport der behinderten und alten Menschen raus aus dem umkämpften Gebieten ist eine Herausforderung.
Der Transport der behinderten und alten Menschen raus aus dem umkämpften Gebieten ist eine Herausforderung. © Funke Foto Service | Reto Klar

Walentyna Pshechenko, die Dame in dem bunten Morgenmantel, hat keine Angehörigen. Sie hat allein in ihrem Appartement in Kramatorsk gewohnt, einer Stadt, die 250 Kilometer östlich von Dnipro liegt. Als vor acht Jahren in Kramatorsk im Frühjahr und Sommer heftige Kämpfe zwischen der ukrainischen Armee und den Separatisten der selbst ernannten Volksrepublik Donezk tobten, wurde das Haus, in dem Pshechenko damals lebte, komplett zerstört. Sie musste mehrere Tage in einem Bunker verbringen. „Seitdem habe ich Platzangst. Deswegen bin ich diesmal in meiner Wohnung geblieben. Ich konnte nicht wieder in den Keller.“

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In den vergangenen Wochen erschütterten jeden Tag die Einschläge von Raketen und Bomben die Stadt, die vor dem Krieg 160.000 Einwohner hatte. „Die Geschäfte, die Apotheken, die Geldautomaten waren geschlossen. Es gab kein richtiges Leben mehr in der Stadt. Man konnte kein Brot mehr kaufen, es gab nicht einmal Wasser“, erzählt die 75-Jährige, die früher als Maschinenbau­ingenieurin gearbeitet hat. „Ich hatte Angst, dass ich sterbe, aber ich kann nicht mehr gut laufen. Deswegen habe ich bei unserem Freiwilligenzentrum angerufen und darum gebeten, dass sie mich wegbringen.“

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Ihr altes Leben lässt sie zurück

Noch am selben Tag wird Pshechenko von einem Ambulanzwagen abgeholt und nach Dnipro gebracht. Ihr altes Leben lässt sie in Kramatorsk zurück. „Ich glaube nicht, dass meine Wohnung heil bleiben wird. Sie haben doch gesehen, was sie mit Mariupol gemacht haben. Sie wollen die Stadt zerstören. Sie werden die Stadt zerstören.“

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Pshechenko ist jetzt seit vier Tagen in dem Zentrum in Dnipro, einer von 50 Menschen, die hier aktuell Obdach gefunden haben. „Ich bin sehr beeindruckt, von der Arbeit, die hier geleistet wird, und davon, wie gütig wir behandelt werden“, sagt sie. Wahrscheinlich wird sie in wenigen Tagen weiter Richtung Westen gebracht. „Sie haben mir gesagt, dass ich nach Finnland gehen werde.“

Wenn Menschen wie die 75-Jährige in der ehemaligen Geburtsklinik ankommen, versorgen sie die Helfer zunächst mit dem Nötigsten, erzählt Leiterin Wolkawa. „Wir waschen sie, oder helfen ihnen dabei. Es war wichtig für uns, das Zentrum mit Warmwasserboilern auszustatten, damit sie Duschen mit heißem Wasser haben.“ Hier kommen die älteren Leute zur Ruhe, oft zum ersten Mal seit vielen Tagen. „Sie schlafen hier gut, weil es hier keine Explosionen gibt. Sie schlafen in weichen, bequemen Betten. Und das ist das Wichtigste.“ Manche erhalten hier auch zum ersten Mal seit Langem wieder die Medikamente, die sie brauchen, gegen Bluthochdruck oder zur Einstellung ihrer Zuckerkrankheit. Alle, die es bis hierhin geschafft haben, seien traumatisiert, manche sprächen nicht mehr, erzählt Wolkawa. „Sie brauchen alle psychologische Hilfe.

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„Wir versuchen ihnen, ein Ziel, einen Anker zu geben“

Dafür sind Yelena Koslowa und ihre Kolleginnen da. Die 47-jährige Psychologin sagt, das größte Problem der Menschen in dem Zentrum sei die Ungewissheit. „Sie erleben einen totalen Kontrollverlust, sie können nichts an der Situation ändern, in die sie hineingeworfen werden, und sie wissen nicht, wie ihre Zukunft aussehen wird. Das ist sehr belastend.“ Es sei für sie deswegen wichtig, dass ihnen Menschen zuhören. „Das ist eigentlich unsere Hauptaufgabe. Sie brauchen jemandem, dem sie sich öffnen können. Und wir versuchen ihnen, ein Ziel, einen Anker zu geben.“ Dazu stattet das Team der Psychologen die Senioren auch mit Informationen aus, versucht ihnen Angst und Misstrauen zu nehmen. „Wir versuchen ihnen zu erklären, dass es in Ordnung ist, wenn sie in andere Länder gebracht werden. Das ist natürlich sehr schwierig.“

Das Ehepaar Boris und Walentyna aus Slaviansk in einem Zimmer der Einrichtung. Sie sollen bald nach Finnland gebracht werden.
Das Ehepaar Boris und Walentyna aus Slaviansk in einem Zimmer der Einrichtung. Sie sollen bald nach Finnland gebracht werden. © Funke Foto Service | Reto Klar

Auch Boris und Walentyna Logvinov sollen in den kommenden Tagen nach Finnland gebracht werden. Die beiden sitzen auf ihrem Bett in dem kleinen Zimmer, in dem sie seit ein paar Tagen wohnen. Sie stammen aus Sloviansk nördlich von Donezk und sind bereits Anfang April nach Dnipro gekommen. Zuerst haben sie in einer Wohnung gelebt, nun sind sie hier. „Borys, warum sind wir hierhergekommen?“, fragt Walentyna ihren Mann. „Um medizinische Behandlung zu bekommen“, antwortet er zögerlich, fragend. „Nein, nicht zur Behandlung, Borys“, antwortet Walentyna, sie lacht. „Wir sind gegangen, weil in der Stadt geschossen wurde“, sagt sie und tätschelt ihm das Knie. Ihr Mann schaut etwas unsicher. „Ja, wir sind wegen der Bombenangriffe gegangen, und sie bombardieren immer noch. Putin ist ein Bandit.“

Kurze Zeit später hält wieder der Ambulanzwagen auf der Einfahrt vor der Geburtsklinik. Helfer schleppen eine alte Frau auf einer Trage in das Gebäude. Sie hat die Augen geschlossen, ist bleich und zittert leicht. Der Rettungswagen wird auf dem Weg raus aus Dnipro Richtung Westen fahren und Menschen aus dem Zentrum in Sicherheit bringen.