London. In Großbritannien sind die Wähler am Donnerstag zu Neuwahlen aufgerufen. Was bedeutet das für den Brexit? Die wichtigsten Antworten.

Wahlkampf-Endspurt in Großbritannien: Für Donnerstag ist die vorgezogene Neuwahl terminiert. Die Wahl ist für den Ausgang des Brexit-Prozesses entscheidend. Warum gibt es diese „snap election“, wie die Briten sie nennen? Das sind die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wahl in Großbritannien: Wann ist der Termin?

Am 12. Dezember 2019 wird im Vereinigten Königreich gewählt. Es handelt sich um vorgezogene Neuwahlen. Regulär wird in Großbritannien alle fünf Jahre gewählt. Der nächste Wahltermin wäre eigentlich der 5. Mai 2022 gewesen. Traditionell wird in Großbritannien an einem Donnerstag gewählt, doch gesetzlich festgelegt ist das nicht.

Warum gibt es in Großbritannien vorgezogene Neuwahlen?

Das Unterhaus hatte im Oktober dem Wunsch von Premierminister Boris Johnson zugestimmt, die Wahl auf den 12. Dezember vorzuziehen. Die oppositionelle Labour-Partei gab ihren Widerstand dagegen auf, nachdem ihrer Einschätzung nach die Gefahr eines ungeregelten EU-Austritts von Großbritannien durch die erneute Verschiebung des Brexit-Termins auf den 31. Januar nicht mehr gegeben ist.

Johnson, der über keine Mehrheit im Unterhaus verfügt und den Abgeordneten eine Verweigerungshaltung vorwirft, hatte die Neuwahl vorgeschlagen und argumentiert, nur durch sie könne die Brexit-Sackgasse aufgehoben werden.

Vereinigtes Königreich: In welchen Ländern wird gewählt?

Das Vereinigte Königreich umfasst die Länder England, Schottland, Wales und Nordirland. In diesen Ländern sind die Wahlberechtigten zur Stimmabgabe aufgerufen.

UK-Wahl: Wer darf wählen?

In Großbritannien dürfen Staatsbürger wählen, die 18 Jahre oder älter sind und sich als Wähler registriert haben. Außerdem dürfen Bürgerinnen und Bürger Irlands und des Commonwealth wählen, wenn sie im Vereinigten Königreich leben und sich haben registrieren lassen. Rund 46 Millionen Menschen sind wahlberechtigt. Das Vereinigte Königreich hat knapp 68 Millionen Staatsbürger.

Wenige Tage vor Anmeldeschluss hatten sich 3,85 Millionen Menschen für die Parlamentswahl am 12. Dezember neu registrieren lassen. Das seien 31 Prozent mehr als zum gleichen Zeitpunkt vor dem vorigen Urnengang 2017, wie die Interessenvereinigung Electoral Reform Society – die sich für eine Wahlreform einsetzt – ermittelte. In Großbritannien müssen sich beispielsweise Erstwähler registrieren lassen, aber auch Wähler nach einem Umzug, etwa ins Ausland.

Großbritannien wählt: Die Konservativen von Premierminister Boris Johnson (links) liegen in Umfragen vor der Labour-Partei  vonJeremy Corbyn.
Großbritannien wählt: Die Konservativen von Premierminister Boris Johnson (links) liegen in Umfragen vor der Labour-Partei vonJeremy Corbyn. © Reuters | TOBY MELVILLE

Wer steht zur Wahl?

Kandidaten in den 650 Wahlkreisen des Vereinigten Königreichs stellen sich zur Wahl. Jeder Wahlkreis schickt einen Abgeordneten ins Unterhaus, das „House of Commons“, eine Kammer des britischen Parlamentes: Das sind die „Members of Parliament“.

Großbritannien hat ein relatives Mehrheitswahlrecht. Ins Parlament zieht nur der Kandidat mit den meisten Stimmen in seinem Wahlkreis ein. Die Stimmen für unterlegene Kandidaten verfallen. Das führt dazu, dass die beiden großen Parteien (Konservative und Labour) bevorzugt werden und bringt in der Regel klare Mehrheitsverhältnisse.

Im Oberhaus oder „House of Lords“, der anderen Kammer des britischen Parlamentes, sitzen rund 800 Männer und Frauen, die nicht gewählt, sondern ernannt werden. Vor 1999 wurden die meisten Sitze mit einem Adelstitel innerhalb von Familien vererbt. Seit der Reform 1999 wird die Mehrheit der Sitze durch Ernennung auf Lebenszeit vergeben. Deshalb spielt das „House of Lords“ bei dieser Wahl keine Rolle.

Neuwahl in Großbritannien: Wer sind die Spitzenkandiaten?

Boris Johnson: Der Premierminister und Chef der Konservativen (Conservative Party) wirbt mit zwei einfachen Botschaften. Er will den Brexit endlich durchziehen – und viel Geld in den öffentlichen Dienst und in die Infrastruktur pumpen. Der nationale Gesundheitsdienst (NHS) soll erhebliche Mittel erhalten, beispielsweise für neue Kliniken. Außerdem will er Tausende Polizeibeamte einstellen und in Schulen investieren.

Premierminister und Konservativen-Chef Boris Johnson.
Premierminister und Konservativen-Chef Boris Johnson. © dpa | Adrian Dennis

Wie das finanziert werden soll, ist ein Rätsel, denn gleichzeitig verspricht er Steuersenkungen. Der Regierungschef zielt damit klar auf Brexit-Wähler aus dem linken Spektrum. Johnson hat kaum Aussicht, den Liberaldemokraten oder der Schottischen Nationalpartei (SNP) Mandate abzujagen.

Um eine Mehrheit zu erreichen, muss er Labour-Mandate im Kernland der Sozialdemokraten im Nordosten Englands und den West Midlands um Birmingham hinzugewinnen.

Jeremy Corbyn: Der Altlinke will den Brexit vor allem aus dem Weg haben, um seine sozialpolitische Agenda durchzubringen. Der Chef der sozialdemokratischen Labour-Partei hat vor, sein eigenes Austrittsabkommen auszuhandeln und strebt dabei eine sehr viel engere Beziehung an die EU an als Johnson.

Danach sollen die Briten in einer zweiten Volksabstimmung zwischen einem Brexit zu diesen Bedingungen und dem Verbleib in der EU wählen. Alles soll in nur sechs Monaten über die Bühne gehen. Corbyn plant, große Teile der Grundversorgung – beispielsweise Energie- und Wassernetze sowie Post und Eisenbahn – wieder unter staatliche Kontrolle zu bringen.

Johnson gegen Corbyn

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    Labour-Chef Jeremy Corbyn.
    Labour-Chef Jeremy Corbyn. © dpa | Aaron Chown

    Unternehmerverbände laufen dagegen Sturm. Sie fürchten, die zur Finanzierung notwendigen Steuererhöhungen könnten die Konjunktur abwürgen. Eine Chance, Premier zu werden, hat er nur mit einer Minderheitsregierung mit Hilfe der Schottischen Nationalpartei SNP. Der Preis dafür wäre ein zweites Unabhängigkeitsreferendum in dem nördlichen Landesteil.

    Jo Swinson: Die junge Chefin der Liberaldemokraten hat sich hohe Ziele gesteckt. Sie will Premierministerin werden. Angesichts des britischen Wahlrechts, das die beiden großen Parteien bevorzugt, scheint das außer Reichweite zu sein. Nach anfänglichem Optimismus werden die Chancen der LibDems, sich bei der Wahl erheblich zu verbessern, nicht mehr als besonders hoch eingestuft.

    Jo Swinson.
    Jo Swinson. © dpa | Yui Mok

    Eine Allianz mit den ebenfalls proeuropäischen Grünen und der walisischen Partei Plaid Cymru in 60 Wahlbezirken soll die Chancen auf Sitze erhöhen, doch die beiden Partner haben kaum Sitze in Westminster.

    Eine Koalition mit den Konservativen oder den Sozialdemokraten schließt Swinson strikt aus. Johnson und Corbyn seien beide nicht für das Amt des Premierministers geeignet, sagt Swinson. Die Liberalen setzen ganz auf das Thema Brexit – der soll nach ihrem Willen komplett abgesagt werden.

    Nigel Farage: Der Chef der Brexit-Partei hat sich zum Ärger vieler Brexit-Hardliner bei den Tories gegen das Austrittsabkommen Johnsons gestellt. Seiner Meinung nach wäre das kein echter Brexit. Farage zog jedoch seine Kandidaten in Wahlkreisen zurück, die bei der vergangenen Wahl von den Tories gewonnen wurden. In Labour-Wahlkreisen tritt die Brexit-Partei aber an.

    Nigel Farage.
    Nigel Farage. © dpa | Jacob King

    Aussichten auf Mandate hat sie kaum. Farage will den Sozialdemokraten Wähler abwerben, die für den Brexit gestimmt haben. Konservative fürchten aber, die Konkurrenz von rechts könnte das Votum der Brexit-Wähler spalten und Labour am Ende sogar helfen.

    Im britischen Mehrheitswahlrecht zieht nur der Kandidat ins Parlament ein, der in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen erringt. Der Premierminister muss selbst Dutzende Labour-Mandate gewinnen, um eine absolute Mehrheit zu erreichen. Farage selbst tritt nicht an.

    Nicola Sturgeon: Die Chefin der Schottischen Nationalpartei (SNP) sitzt nicht im Parlament in Westminster. Doch anders als die wechselnden Fraktionschefs in London ist die Regierungschefin in Edinburgh eine Konstante in der Partei. Sie kennt nur ein Ziel und das lautet, so schnell wie möglich ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für ihren Landesteil zu erreichen.

    Nicola Sturgeon.
    Nicola Sturgeon. © dpa | Andrew Milligan

    Bei einer ersten Volksabstimmung im Jahr 2014 stimmten 55 Prozent der Schotten gegen die Abspaltung von der EU. Der einzige Weg zu einem neuen Referendum führt über einen Pakt mit Labour. Bei der Parlamentswahl 2017 musste die SNP einige Rückschläge hinnehmen. Sie verlor ein Drittel ihrer Sitze. Doch einen Großteil könnte sie Umfragen zufolge womöglich zurückgewinnen.

    Was sagen die Umfragen?

    Nach jüngsten Umfragen ist ein Sieg der Konservativen von Premier Boris Johnson zwar weiter wahrscheinlich. Ganz sicher können sie sich einer Mehrheit aber nicht sein. Corbyns oppositionelle Labour-Partei konnte den Abstand auf die Tories zuletzt verringern.

    Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass es zu einem „hung parliament“ kommt. Damit ist eine Sitzverteilung gemeint, in der keine der beiden großen Parteien aus eigener Kraft eine Regierung bilden kann.

    Wahlforscher hatten zuletzt nur noch einen Vorsprung von 28 Mandaten für die Tories vor den anderen Parteien vorausgesagt. Die Konservativen kämen demnach auf 339 von 650 Sitzen.

    Vor zwei Wochen hatte eine ähnliche Umfrage Johnson noch eine Mehrheit von 68 Abgeordneten prophezeit. Für die jüngste Erhebung im Auftrag der Tageszeitung „The Times“ wurden mehr als 100.000 Menschen über einen Zeitraum von sieben Tagen einschließlich Dienstag befragt. In früheren Erhebungen kamen die Konservativen auf ein besseres Ergebnis.

    Wann steht das Ergebnis fest?

    Die Wahllokale im Vereinigten Königreich sind am 12. Dezember bis 22 Uhr Uhr (Ortszeit, 23 Uhr MEZ) geöffnet. Dann wird mit einer Hochrechnung gerechnet. Wahlzettel werden in zwei Durchgängen kontrolliert, meistens steht ein vorläufiges Endergebnis in den frühen Morgenstunden nach der Wahl fest.

    Unmittelbar nach der Schließung der Wahlergebnisse wird eine Prognose im Auftrag der Fernsehsender BBC, ITV und Sky News veröffentlicht. Bei vier von fünf Wahlen seit der Jahrtausendwende lagen die Prognosen grundsätzlich richtig.

    Kleinere Abweichungen zum Auszählungsergebnis sind aber üblich. Sollte das Rennen sehr knapp ausgehen, könnte es sein, dass bis zur Auszählung eines Großteils der Stimmen keine Klarheit herrscht. Die Ergebnisse werden für jeden Wahlkreis einzeln bekanntgegeben, die Auszählung dürfte sich bis in die Morgenstunden hinziehen. Mit einem offiziellen Endergebnis ist erst im Laufe des Freitags zu rechnen.

    Wie läuft die Regierungsbildung?

    Bei klaren Mehrheitsverhältnissen beauftragt Königin Elizabeth II. den Wahlsieger mit der Bildung einer Regierung. Sollte es zu einem „hung parliament“ kommen, also einem Parlament, in dem weder Labour noch Konservative eine absolute Mehrheit der Mandate erreichen konnten, müssen zuvor Verhandlungen über eine Koalition oder die Duldung einer Minderheitsregierung stattfinden.

    Die Konservativen von Premierminister Boris Johnson haben derzeit kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen. Mit der nordirisch-protestantischen DUP, die Johnsons Vorgängerin Theresa May nach der Wahl 2017 stützte, hat sich Johnson im Streit über seinen Brexit-Deal überworfen. Die Umfragen sehen ihn jedoch auf dem Kurs zu einer eigenen Mehrheit.

    Die Chancen der Labour-Partei für eine eigene Mehrheit gehen dem renommierten Wahlforscher John Curtice zufolge „gegen null“. Parteichef Jeremy Corbyn könnte aber auf die Hilfe der Schottischen Nationalpartei SNP hoffen.

    Der Preis wäre jedoch ein baldiges Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands, wie Parteichefin Nicola Sturgeon deutlich machte. Auch die Liberaldemokraten könnten Zünglein an der Waage spielen. Ihr Ziel ist es, den Brexit abzuwenden. Daher wäre eine Zusammenarbeit mit Johnsons Tories nur schwer vorstellbar - mit Labour schon eher.

    Welche Bedeutung hat die Wahl für den Brexit?

    Sollte Boris Johnson eine klare Mehrheit erreichen, könnte er schon bald mit der Ratifizierung seines Brexit-Abkommens beginnen. Zusammentreten soll das Parlament erstmals wieder am 17. Dezember. Johnson kündigte bereits an, noch vor Weihnachten über seinen Austrittsdeal abstimmen zu lassen. Der EU-Austritt soll dann bis zum 31. Januar vollzogen werden.

    Anschließend würden die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen beginnen, das bis spätestens Ende des Jahres 2020 in Kraft treten muss. Dann endet die im Brexit-Deal vereinbarte Übergangsfrist. Eine Verlängerung wäre zwar bis Ende Juni noch möglich, doch das hat Johnson bereits ausgeschlossen.

    Corbyn will innerhalb von drei Monaten einen neuen Brexit-Deal mit enger Anbindung an die EU aushandeln und sechs Monate später den Briten in einem Referendum vorlegen, die Alternative wäre ein Verbleib in der Staatengemeinschaft. (moi/les/dpa/rtr/epd)