Berlin. Die Zahl der Geflüchteten auf den griechischen Inseln steigt an. Die Bundesregierung fürchtet, dass das Türkei-Abkommen platzen könnte.

Wenn immer ein Schiff mit geretteten Menschen aus dem Mittelmeer in den Häfen von Italien oder Malta landete, begann in den vergangenen Monate eine mühsame Telefonkette. Die EU-Staaten müssen Zusagen geben an Länder wie Italien, die Geflüchtete aufnehmen. Sonst bleibt die Hafeneinfahrt dicht.

Also telefoniert Bundesinnenminister Horst Seehofer mit seinen Amtskollegen in den Niederlanden etwa, in Finnland, in Frankreich. Meist geht es nur um ein paar Dutzend Geflüchtete. Doch es geht immer auch um das politische Signal. Je mehr Länder Migranten aus Italien oder Malta aufnehmen, desto besser. So berichten es Mitarbeiter aus dem Ministerium.

Weit entfernt von einer Lösung

Doch dieses Krisenmanagement zeigt. Die Europäische Union ist weit entfernt von einer politischen Lösung der Notlage von Flüchtlingen und Migranten. Die Lage zwischen Libyen und den EU-Mittelmeerstaaten bleibt dramatisch.

Nun spitzt sich auch die Situation im östlichen Mittelmeer, zwischen der Türkei und Griechenland, zu. Das Abkommen zwischen EU und Türkei aus dem Frühjahr 2016 zeigte zunächst Wirkung – die Zahl der Überfahrten in Richtung griechische Inseln ging drastisch zurück. Dafür zahlte die EU Milliarden an die Regierung von Recep Tayyip Erdogan.

Mittlerweile kommen aber wieder deutlich mehr Menschen. Seit April steigt die Zahl der ankommenden Menschen. Im August waren es nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR mehr als 8000 – ein Jahr zuvor gerade mal 3200. In den sogenannten „Hotspots“, den völlig überfüllten Aufnahmelagern auf Inseln wie Lesbos und Chios, und um sie herum leben nach Angaben von Hilfsorganisationen mehr als 25.000 Menschen, 4200 von ihnen minderjährig und ohne Begleitung.

Schlafen auf Pappkartons

Insgesamt sind die Lager auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos nur für 6300 Menschen ausgerichtet. Rundherum haben sich Satellitencamps gebildet, in denen die Menschen in Zelten oder unter Plastikplanen hausen. Die Lebenslage ist katastrophal, Menschen schlafen auf Pappkartons, es gibt zu wenig Toiletten, Zelte sind Mangelware.

Alle Versuche, die Situation zu entschärfen, scheitern bislang. Die im Juli abgelöste linke griechische Regierung von Alexis Tsipras entlastete die Camps zwar punktuell, indem sie einige Tausend Migranten zum Festland brachte.

Vor allem die Bearbeitung der Asylanträge und das Abschieben jener, die nicht asylberechtigt sind, dauert nach Ansicht der EU-Kommission aber viel zu lange. Zu wenig Personal, argumentierte die Tsipras-Regierung. Teils reisten Asylbearbeiter, die aus anderen EU-Staaten zur Hilfe gekommen waren, wegen schlechter Arbeitsbedingungen allerdings auch unverrichteter Dinge wieder ab.

Heikle Lage in den Hotspots

Nun beobachtet die Bundesregierung sehr genau und mit Sorge die Lage vor Ort – und erhöht den Druck auf Griechenland. So will die Merkel-Regierung den umstrittenen Pakt zwischen EU und Türkei retten.

Der Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat, Stephan Mayer (CSU), sagte unserer Redaktion: Klar müsse sein, „dass wir dringend Fortschritte bei den zu geringen Rückführungen in die Türkei benötigen, um die heikle Lage in den Hotspots auf den Inseln zu verbessern“.

Die Situation auf den griechischen Inseln sei „nach wie vor sehr schwierig“. Davon besonders betroffen seien zum Beispiel unbegleitete Minderjährige, „für die wir dringend Verbesserungen benötigen“, so Mayer.

„Schützt vor Todesfällen“

Der CSU-Politiker hebt die Bedeutung des Deals hervor: „Die EU-Türkei-Erklärung ist von immenser Bedeutung, auch zur Eindämmung der illegalen Überfahrten auf die griechischen Inseln.“ Die Erklärung verhindere „insbesondere das Geschäft der Schleuser und schützt vor Todesfällen in der Ägäis“.

Zwischen März 2015 und März 2016 starben laut Bundesregierung 1.163 Menschen beim Versuch der Überfahrt auf die griechischen Inseln. 2017 und 2018 waren es demnach nur 233 Personen. Allerdings machten sich eben auch Hunderttausende weniger auf die gefährliche Überfahrt.

Nach Information unserer Redaktion wächst im Innenministerium in Berlin die Sorge davor, dass Erdogan das Abkommen aufweichen lassen könnte – und die Zahl der Migranten, die auf die griechischen Inseln fliehen noch deutlicher steigt.

Erdogan steht auch innenpolitisch unter Druck

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. © dpa | Uncredited

Die Gründe dafür sehen Fachleute in den deutschen Innenbehörden nicht nur in einer möglichen Forderung Erdogans nach mehr Geld. Der türkische Präsident stehe allmählich innenpolitisch unter Druck. Die vielen Geflüchteten aus Syrien und Irak belasten gerade die größeren Städte, viele versuchen schwarz Arbeit zu bekommen, kommen in irregulären Siedlungen an den Stadträndern unter.

Zugleich will die deutsche Regierung den griechischen Behörden sowohl bei der Registrierung der neu ankommenden Migranten und Geflüchteten sowie bei den Asylverfahren, aber auch den Abschiebungen helfen. Doch das sei mit der bisherigen Regierung von Ministerpräsident Alexis Tsipras nicht leicht gewesen.

Jetzt regieren die Konservativen in Athen – und Deutschland hofft auf Besserung der Lage auf den Inseln. Vor allem eine erhöhte Zahl an Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern zurück von den Inseln in die Türkei wünscht sich die Bundesregierung.

Fast 9000 Syrer kamen nach Deutschland

Bis heute wurden nach Angaben der Europäischen Kommission seit Inkrafttreten der EU-Türkei-Erklärung insgesamt 1.904 Personen von Griechenland in die Türkei im Rahmen der Erklärung rückgeführt.

Laut EU-Türkei-Abkommen sollte für jeden abgeschobenen Syrer nach März 2016 ein Syrer aus der Türkei in die EU umgesiedelt werden. Doch die Zahl der Syrer, die seitdem aus der Türkei in der EU – vor allem in Deutschland – verteilt wurden, liegt deutlich höher. Laut Innenministerium bei insgesamt 24.348 Syrerinnen und Syrern seit 2016. 8896 kamen davon nach Deutschland

Das Problem, heißt es etwa von Seiten der deutschen Innenbehörden: Griechenland sieht die Türkei nicht als sicheres Herkunftsland an. Und schiebt deshalb viele Menschen nicht ab. Die Haltung der griechischen Beamten ist auch Folge der Konflikte, die beide Länder in der Vergangenheit ausgetragen hatten. Viele Griechen mussten selbst fliehen.

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Gespräche mit der Türkei

Die Bundesregierung will nach Informationen unserer Redaktion nicht nur den Druck auf die griechischen Behörden erhöhen, sondern auch von Vertretern der türkischen Regierung erfahren, warum die Flüchtlingszahlen auf diesem Abschnitt des Mittelmeers ansteigen.

Kritiker des EU-Türkei-Abkommens hatten schon 2016 gewarnt, dass sich die EU erpressbar mache. Sobald Erdogan mehr Geld wolle, öffne er die Grenzen. Sechs Milliarden Euro hatte die europäische Staatengemeinschaft der Regierung in Ankara für die Jahre 2016 bis 2019 für die Versorgung von Flüchtlingen zu.

Davon seien bereits 3,5 Milliarden Euro vertraglich vergeben und 2,4 Milliarden ausgezahlt worden, teilte die EU-Kommission jüngst mit. Ausgezahlt wurden davon nach Angaben der Behörde 2,4 Milliarden. Mehr als 80 Projekte seien angelaufen.

Entscheidend ist Frankreich

Ende des Monats treffen sich die EU-Innenminister dann zum gemeinsamen Gipfel in Malta. CSU-Minister Seehofer wird anreisen. Erneut wird er versuchen, Fortschritte bei der Reform des EU-Asylsystems zu erreichen. Bisher sind die Erfolge gering.

Vor allem ein automatisches Krisenmanagement für die geretteten Flüchtlinge vor der Küste Libyens strebt die Bundesregierung an. Dabei ist nach Informationen unserer Redaktion entscheidend, ob sich auch Frankreich bereit erklärt, regelmäßig Schiffe mit aus Seenot geratenen Menschen an Land zu lassen.

Dann, so heißt es, könnten auch Malta und Italien mitziehen. Es wäre ein erster Erfolg.