Ankara. Rund vier Millionen Flüchtlinge leben in der Türkei. Immer mehr Einheimische empfinden die Migranten als Last – und als Konkurrenten.

Mehr als 3,6 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem benachbarten Syrien beherbergt die Türkei. Einst als Gäste begrüßt, werden die Schutzsuchenden inzwischen immer häufiger angefeindet. Hinzu kommen Berichte über angebliche Abschiebungen in das syrische Kriegsgebiet von Idlib. Damit rückt das zwischen der EU und der Türkei geschlossene Flüchtlingsabkommen wieder in den Fokus.

In Istanbul spüren Flüchtlinge bereits die Agressionen: Die Männer der Verwaltung des Bezirks Esenyurt kamen früh am Morgen, und sie fackelten nicht lange: Mit schwerem Werkzeug entfernten sie arabische Leuchtreklamen von Läden und kratzten arabische Schriftzeichen von den Schaufenstern. Auf Hebebühnen fuhren die Arbeiter sogar in schwindelnde Höhen, um an den oberen Stockwerken arabische Werbeschilder zu demontieren.

Türkei will Flüchtlinge loswerden – Das Wichtigste in Kürze:

  • Millionen Flüchtlinge aus Syrien hat die Türkei aufgenommen
  • Viele von ihnen werden immer häufiger Opfer von Angriffen
  • Die Türkei hat insgesamt mehr Migranten aufgenommen als alle anderen Länder Europas
  • Mögliche Abschiebungen nach Syrien könnten den Druck auf die EU erhöhen
  • Die Türkei hatte gegen Finanzhilfen zugesichert, Migranten aus dem Bürgerkriegsland aufzunehmen

Esenyurts Bezirksbürgermeister Ali Murat Alatepe setzt konsequent eine neue Verordnung des türkischen Innenministeriums um. Danach müssen Ladenschilder zu 75 Prozent in türkischer Sprache abgefasst sein. Höchstens 25 Prozent der Aufschriften dürfen fremdsprachig sein. „Die (türkischen) Passanten verstehen nicht, was in diesen Läden überhaupt verkauft wird“, sagt Alatepe.

Die Karriere von Recep Tayyip Erdogan

Recep Tayyip Erdogan wurde am 26. Juni 2018 zum zweiten Mal in Folge zum Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Zwei Wochen später hat er seinen Amtseid abgelegt und ist auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen. Bilder seiner Karriere.
Recep Tayyip Erdogan wurde am 26. Juni 2018 zum zweiten Mal in Folge zum Staatspräsidenten der Türkei gewählt. Zwei Wochen später hat er seinen Amtseid abgelegt und ist auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen. Bilder seiner Karriere. © dpa | Lefteris Pitarakis
Der Mann, der die Geschicke der Türkei bereits seit fast 16 Jahren bestimmt, ist nun nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Seine Vereidigung besiegelte den Umbau des Staates vom parlamentarischen in ein Präsidialsystem. Darauf hatte er jahrelang hingearbeitet. Er kann unter anderem per Dekret regieren, viele Posten im Justizsystem besetzen und seine Vizepräsidenten allein bestimmten. Auch sein Kabinett konnte er ohne Zustimmung des Parlaments ernennen.
Der Mann, der die Geschicke der Türkei bereits seit fast 16 Jahren bestimmt, ist nun nicht mehr nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Seine Vereidigung besiegelte den Umbau des Staates vom parlamentarischen in ein Präsidialsystem. Darauf hatte er jahrelang hingearbeitet. Er kann unter anderem per Dekret regieren, viele Posten im Justizsystem besetzen und seine Vizepräsidenten allein bestimmten. Auch sein Kabinett konnte er ohne Zustimmung des Parlaments ernennen. © dpa | Uncredited
Erdogan und seine Ehefrau Emine beim Gebet während der pompösen Zeremonie im Präsidentenpalast nach der Vereidigung am 9. Juli 2018.
Erdogan und seine Ehefrau Emine beim Gebet während der pompösen Zeremonie im Präsidentenpalast nach der Vereidigung am 9. Juli 2018. © REUTERS | UMIT BEKTAS
Im Oktober 2004 ehrte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, r.) einen besonderen Gast: „Ihr Eintreten für mehr Freiheit, einen besseren Schutz der Menschenrechte und weniger staatliche Bevormundung ist für Sie, Herr Ministerpräsident, aber kein Zugeständnis an Europa, sondern es ist Konsequenz Ihrer politischen Überzeugung.“ Die Laudatio galt dem türkischen Regierungschef, der in Berlin zum „Europäer des Jahres“ in der Kategorie „Brücken des Respekts“ gekürt wurde.
Im Oktober 2004 ehrte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD, r.) einen besonderen Gast: „Ihr Eintreten für mehr Freiheit, einen besseren Schutz der Menschenrechte und weniger staatliche Bevormundung ist für Sie, Herr Ministerpräsident, aber kein Zugeständnis an Europa, sondern es ist Konsequenz Ihrer politischen Überzeugung.“ Die Laudatio galt dem türkischen Regierungschef, der in Berlin zum „Europäer des Jahres“ in der Kategorie „Brücken des Respekts“ gekürt wurde. © picture alliance / Eventpress | dpa Picture-Alliance / Eventpress Herrmann
Warme Worte, die wohl niemand in der EU mehr mit dem heutigen türkischen Staatspräsidenten verbinden würde. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger scheint Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU, l.) kein Lächeln mehr für Erdogan übrig zu haben. Erdogan griff am 13. März 2017 bei einer Veranstaltung in Ankara erneut Bundeskanzlerin Angela Merkel an, die sich im Streit um Auftrittsverbote hinter die Regierung in Den Haag gestellt hatte.
Warme Worte, die wohl niemand in der EU mehr mit dem heutigen türkischen Staatspräsidenten verbinden würde. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger scheint Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU, l.) kein Lächeln mehr für Erdogan übrig zu haben. Erdogan griff am 13. März 2017 bei einer Veranstaltung in Ankara erneut Bundeskanzlerin Angela Merkel an, die sich im Streit um Auftrittsverbote hinter die Regierung in Den Haag gestellt hatte. © dpa | Lefteris Pitarakis
Nicht nur die Schröder-Laudatio zeigt, was für einen Wandel Erdogan in seiner Karriere durchlaufen hat. Seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hat kein Politiker die Türkei stärker geprägt als der heute 64-Jährige – der bislang aus allen Krisen gestärkt hervorging. In die Wiege gelegt wurde Erdogan der Erfolg nicht. Seine Familie stammt von der Schwarzmeerküste. Erdogan wuchs in einfachen Verhältnissen im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa auf.
Nicht nur die Schröder-Laudatio zeigt, was für einen Wandel Erdogan in seiner Karriere durchlaufen hat. Seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk hat kein Politiker die Türkei stärker geprägt als der heute 64-Jährige – der bislang aus allen Krisen gestärkt hervorging. In die Wiege gelegt wurde Erdogan der Erfolg nicht. Seine Familie stammt von der Schwarzmeerküste. Erdogan wuchs in einfachen Verhältnissen im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa auf. © REUTERS | REUTERS / UMIT BEKTAS
Der Film „Reis“ („Anführer“) zeichnet das frühe Leben Erdogans – verkörpert von dem türkischen Schauspieler Reha Beyoglu – nach. Zwar soll das Präsidialamt keinen Einfluss auf den sentimental-kitschigen Streifen genommen haben. Das Image Erdogans, das der Film transportiert, ist aber eines, das auch seine Anhänger pflegen: das eines ebenso gerechten wie gläubigen Menschen, der sich aufopfert, um Benachteiligten zu helfen.
Der Film „Reis“ („Anführer“) zeichnet das frühe Leben Erdogans – verkörpert von dem türkischen Schauspieler Reha Beyoglu – nach. Zwar soll das Präsidialamt keinen Einfluss auf den sentimental-kitschigen Streifen genommen haben. Das Image Erdogans, das der Film transportiert, ist aber eines, das auch seine Anhänger pflegen: das eines ebenso gerechten wie gläubigen Menschen, der sich aufopfert, um Benachteiligten zu helfen. © REUTERS | REUTERS / MURAD SEZER
Erst in Kasimpasa, dann von 1994 an als Oberbürgermeister in ganz Istanbul. Diese Aufnahme zeigt Erdogan (Mitte) am 22. April 1998 gemeinsam mit Melih Gokcek (l.) – Bürgermeister von Ankara – und dem türkischen AKP-Politiker Ismail Kahraman in Istanbul.
Erst in Kasimpasa, dann von 1994 an als Oberbürgermeister in ganz Istanbul. Diese Aufnahme zeigt Erdogan (Mitte) am 22. April 1998 gemeinsam mit Melih Gokcek (l.) – Bürgermeister von Ankara – und dem türkischen AKP-Politiker Ismail Kahraman in Istanbul. © picture alliance/ASSOCIATED PRESS | AP Content
Der Film endet 1999 mit Erdogans Verhaftung wegen einer flammenden Rede, in der er ein Gedicht mit dem Vers „Die Minarette sind unsere Bajonette“ zitierte. Nach vier Monaten wurde Erdogan wieder aus der Haft entlassen.
Der Film endet 1999 mit Erdogans Verhaftung wegen einer flammenden Rede, in der er ein Gedicht mit dem Vers „Die Minarette sind unsere Bajonette“ zitierte. Nach vier Monaten wurde Erdogan wieder aus der Haft entlassen. © REUTERS | REUTERS / Stringer Turkey
2002 führte der vierfache Familienvater die von ihm mitbegründete islamisch-konservative AKP an die Macht.
2002 führte der vierfache Familienvater die von ihm mitbegründete islamisch-konservative AKP an die Macht. © REUTERS | REUTERS / Fatih Saribas
Shaking Hands: Erdogan trifft im Dezember 2002 den damaligen US-Präsidenten George W. Bush im Weißen Haus.
Shaking Hands: Erdogan trifft im Dezember 2002 den damaligen US-Präsidenten George W. Bush im Weißen Haus. © REUTERS | REUTERS / Kevin Lamarque
Nur wenige Minuten vermochte sich der Regierungschef im Sattel zu halten, als er bei der Eröffnung eines Stadtparks im Istanbuler Bezirk Bayrampasa am 30. Juli 2003 einen kleinen Ausritt wagte. Das zuvor bereits bockige Pferd warf ihn kurzerhand ab. Erdogan kam ungeschoren davon. Sein Programm habe er nach dem Sturz normal fortgesetzt.
Nur wenige Minuten vermochte sich der Regierungschef im Sattel zu halten, als er bei der Eröffnung eines Stadtparks im Istanbuler Bezirk Bayrampasa am 30. Juli 2003 einen kleinen Ausritt wagte. Das zuvor bereits bockige Pferd warf ihn kurzerhand ab. Erdogan kam ungeschoren davon. Sein Programm habe er nach dem Sturz normal fortgesetzt. © picture-alliance / dpa/dpaweb | dpa Picture-Alliance / epa
Im Jahr 2003 übernahm Erdogan das Amt des Ministerpräsidenten. Die Aufnahme zeigt Erdogans Teilnahme an der Zeremonie zum 67. Todestag von Mustafa Kemal Atatürk in Ankara.
Im Jahr 2003 übernahm Erdogan das Amt des Ministerpräsidenten. Die Aufnahme zeigt Erdogans Teilnahme an der Zeremonie zum 67. Todestag von Mustafa Kemal Atatürk in Ankara. © REUTERS | Umit Bektas
Rote Nelken gab es im Mai 2014 in Köln während einer Veranstaltung zum zehnjährigen Jubiläum der UETD, der Union Europäisch-Türkischer Demokraten.
Rote Nelken gab es im Mai 2014 in Köln während einer Veranstaltung zum zehnjährigen Jubiläum der UETD, der Union Europäisch-Türkischer Demokraten. © Getty Images | Sascha Schuermann
2014 wurde Erdogan der erste direkt vom Volk gewählte Staatspräsident der Republik. Am 28. August 2014 wurde er vereidigt. Die Aufnahme zeigt den vierfachen Familienvater mit seiner Ehefrau Emine (3.v.l.), Schwiegersohn Berat Albayrak (l.), Tochter Esra Erdogan Albayrak (2.v.l.), Sohn Necmeddin Bilal (2.v.r.) und Tochter Sümeyye.
2014 wurde Erdogan der erste direkt vom Volk gewählte Staatspräsident der Republik. Am 28. August 2014 wurde er vereidigt. Die Aufnahme zeigt den vierfachen Familienvater mit seiner Ehefrau Emine (3.v.l.), Schwiegersohn Berat Albayrak (l.), Tochter Esra Erdogan Albayrak (2.v.l.), Sohn Necmeddin Bilal (2.v.r.) und Tochter Sümeyye. © REUTERS | REUTERS / UMIT BEKTAS
Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 treibt Erdogan sein Ziel eines Präsidialsystems für die Türkei mit Riesenschritten voran. Diese Aufnahme zeigt Soldaten vor dem Denkmal der Republik am Taksim-Platz in Istanbul. Der Aufstand mit etwa 300 Toten scheitert. Ankara macht Anhänger des Predigers Fethullah Gülen verantwortlich.
Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 treibt Erdogan sein Ziel eines Präsidialsystems für die Türkei mit Riesenschritten voran. Diese Aufnahme zeigt Soldaten vor dem Denkmal der Republik am Taksim-Platz in Istanbul. Der Aufstand mit etwa 300 Toten scheitert. Ankara macht Anhänger des Predigers Fethullah Gülen verantwortlich. © REUTERS | REUTERS / MURAD SEZER
Tausende Beamten, Polizisten und Richter werden entlassen und verhaftet. Erdogan spricht von „Säuberungen“.
Tausende Beamten, Polizisten und Richter werden entlassen und verhaftet. Erdogan spricht von „Säuberungen“. © REUTERS | REUTERS / UMIT BEKTAS
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gab am 16. April in einem Wahllokal in Istanbul seine Stimme zum Referendum ab. Das Volk entschied zugunsten des Staatschefs. Das Präsidialsystem, für dessen Einführung bei dem Verfassungs-Referendum eine knappe Mehrheit votierte, wird Erdogan deutlich mehr Macht verleihen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gab am 16. April in einem Wahllokal in Istanbul seine Stimme zum Referendum ab. Das Volk entschied zugunsten des Staatschefs. Das Präsidialsystem, für dessen Einführung bei dem Verfassungs-Referendum eine knappe Mehrheit votierte, wird Erdogan deutlich mehr Macht verleihen. © dpa | Lefteris Pitarakis
Erdogan hat weitere unbestreitbare Erfolge vorzuweisen. Unter seiner Ägide hat die Türkei eine gigantische wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen. Erdogan war es auch, der die Türkei Richtung Europa führte. Als er Ministerpräsident war, wurde 2004 die Todesstrafe abgeschafft.
Erdogan hat weitere unbestreitbare Erfolge vorzuweisen. Unter seiner Ägide hat die Türkei eine gigantische wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen. Erdogan war es auch, der die Türkei Richtung Europa führte. Als er Ministerpräsident war, wurde 2004 die Todesstrafe abgeschafft. © REUTERS | REUTERS / OSMAN ORSAL
2005 nahm die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der EU auf. Während weite Teile des Nahen Ostens im Chaos versanken, schien Erdogan zu beweisen, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch in sich sein müssen. Erdogan war es auch, der einen Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in die Wege leitete.
2005 nahm die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der EU auf. Während weite Teile des Nahen Ostens im Chaos versanken, schien Erdogan zu beweisen, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch in sich sein müssen. Erdogan war es auch, der einen Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in die Wege leitete. © REUTERS | REUTERS / YAGIZ KARAHAN
Der Friedensprozess mit der PKK ist gescheitert, seit Mitte 2015 eskaliert die Gewalt. Als die AKP im Juni 2015 erstmals die absolute Mehrheit bei der Parlamentswahl verlor, veranlasste Erdogan eine Neuwahl, um den Makel auszubügeln. Nach der Niederschlagung des Putsches verhängte der Präsident den Ausnahmezustand und ließ Zehntausende Menschen inhaftieren, darunter auch regierungskritische Journalisten. Rund 100.000 Staatsbedienstete wurden entlassen.
Der Friedensprozess mit der PKK ist gescheitert, seit Mitte 2015 eskaliert die Gewalt. Als die AKP im Juni 2015 erstmals die absolute Mehrheit bei der Parlamentswahl verlor, veranlasste Erdogan eine Neuwahl, um den Makel auszubügeln. Nach der Niederschlagung des Putsches verhängte der Präsident den Ausnahmezustand und ließ Zehntausende Menschen inhaftieren, darunter auch regierungskritische Journalisten. Rund 100.000 Staatsbedienstete wurden entlassen. © dpa | Kayhan Ozer
Je stärker die EU-Kritik an dem im Westen als zunehmend autoritär empfundenen Führungsstil Erdogans wuchs, desto mehr wendete sich dieser von Europa ab. Erdogan nannte die EU erst kürzlich eine „Kreuzritter-Allianz“.
Je stärker die EU-Kritik an dem im Westen als zunehmend autoritär empfundenen Führungsstil Erdogans wuchs, desto mehr wendete sich dieser von Europa ab. Erdogan nannte die EU erst kürzlich eine „Kreuzritter-Allianz“. © REUTERS | REUTERS / MURAD SEZER
Bei seinem Amtsantritt als Präsident 2014 hatte Erdogan eine „neue Türkei“ versprochen und an die Adresse seiner Gegner versöhnliche Signale ausgesandt.
Bei seinem Amtsantritt als Präsident 2014 hatte Erdogan eine „neue Türkei“ versprochen und an die Adresse seiner Gegner versöhnliche Signale ausgesandt. © REUTERS | Murad Sezer
„Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen“, sagte er damals. Stattdessen sind die Gräben in der Bevölkerung tiefer denn je.
„Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen“, sagte er damals. Stattdessen sind die Gräben in der Bevölkerung tiefer denn je. © REUTERS | HANDOUT
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Die neue Vorschrift ist eine Konzession an einen Stimmungsumschwung in der türkischen Bevölkerung. Als 2011 nach dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs die ersten Flüchtlinge über die Grenze kamen, schlug ihnen eine Welle der Hilfsbereitschaft entgegen. Damals glaubte man noch an ein schnelles Ende des Krieges und eine baldige Rückkehr der Geflüchteten in ihre Heimat.

Konkurrenz um einen Arbeitsplatz

Inzwischen leben nach Angaben der Uno 3,6 Millionen Syrer in der Türkei. Hinzu kommen rund 500.000 Schutzsuchende und Wirtschaftsflüchtlinge aus Ländern wie Pakistan, Afghanistan und dem Irak. Damit beherbergt die Türkei mehr Migranten als alle anderen Länder Europas zusammen.

In der Grenzprovinz Kilis stellen syrischen Flüchtlinge inzwischen 80 Prozent der 143.000 Einwohner. Auch in den grenznahen Großstädten Sanliurfa und Gaziantep prägen die syrischen Migranten inzwischen ganze Straßenzüge und Stadtviertel.

Syrische Kriegsflüchtlinge genießen in der Türkei als „Gäste“ einen vorläufigen Schutzstatus. Aber immer mehr Türken empfinden sie als Last – und als Konkurrenten bei der Suche nach Arbeit. Der Sozialneid wächst, weil die Türkei in einer Wirtschaftskrise steckt.

Die Arbeitslosenquote beträgt 13 Prozent. Die syrischen Migranten machen den Einheimischen vor allem Billigjobs streitig und drücken so die ohnehin niedrigen Löhne noch weiter. Umfragen zufolge meinen fast neun von zehn Türken, die Syrer sollten die Türkei wieder verlassen.

Attacken auf syrische Läden in Istanbul

Wie gespannt die Stimmung inzwischen ist, zeigte sich vor wenigen Tagen im Istanbuler Stadtteil Kücükcekmece, einem Viertel, wo besonders viele Migranten leben. Dort griff eine Gruppe von etwa 50 Männern mit Steinwürfen syrische Läden an. Anlass der Ausschreitungen: Ein Flüchtling hatte angeblich ein türkisches Mädchen belästigt – Fake News, wie sich später herausstellte.

Die Regierung hatte die Flüchtlinge anfangs mit offenen Armen empfangen. Staatschef Recep Tayyip Erdogan kündigte damals sogar an, man werde syrischen Migranten die Einbürgerung erleichtern. Davon ist inzwischen nicht mehr die Rede. Die Türkei bekam dafür Finanzhilfen aus der EU zugesprochen.

Die wachsenden Ressentiments gegen die syrischen Migranten gelten als eine der Ursachen für die schweren Verluste der Regierungspartei AKP bei den Kommunalwahlen im Frühjahr.

Aber auch der neue Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, der als Oppositionskandidat die Wahl in Istanbul gewonnen und damit die 25-jährige Herrschaft der Erdogan-Partei am Bosporus gebrochen hatte, steuert in der Flüchtlingsfrage einen harten Kurs. „Unsere Bürger sind in Unruhe, sie gehen auf die Straßen, weil sie keinen sicheren Ort mehr finden können“, sagte Imamoglu nach den Zwischenfällen von Kücükcekmece.

Streit um arabische Schriftzeichen

Der neue Bürgermeister, der noch im Wahlkampf viel von Konsens und Toleranz gesprochen hatte, warnt davor, die Istanbuler Kultur werde durch die Migranten verdrängt – unter anderem durch die vielen arabischen Schriftzeichen an den Geschäften. „Hier ist die Türkei, hier ist Istanbul“, sagt Imamoglu.

Der Streit um die arabischen Schilder und Plakate bekommt eine besondere Bedeutung, weil die Türkei sich 1928 unter dem Republikgründer Kemal Atatürk von den arabischen Schriftzeichen verabschiedete und zum lateinischen Alphabet wechselte.

Nun kehrt die damals abgeschaffte Schrift zurück, „infolge der Invasion der Syrer“, wie Emin Cölasan klagt, einer der prominentesten kemalistischen Kolumnisten des Landes. „Man fragt sich, ob man in Syrien, Saudi-Arabien oder dem Irak ist“, so Cölasan.

Die Regierung verschärft nun die Gangart in der Flüchtlingspolitik – vor allem in der Bosporusmetropole Istanbul Hier leben 547.000 offiziell registrierte Syrer. Experten schätzen aber, dass sich mindestens weitere 300.000 Flüchtlinge illegal in der Stadt aufhalten:

Diese Maßnahmen hat die Regierung eingeleitet:

  • Flüchtlinge sollen bis zum 20. August in jene Provinzen zurückkehren, in denen sie registriert sind.
  • Mit großangelegten Razzien sucht die Polizei seit Mitte Juli in Istanbul nach Migranten ohne gültige Papiere. Tausende wurden bereits festgenommen, mehrheitlich allerdings nicht Syrer, sondern Migranten aus Afghanistan und Pakistan.
  • Während die Syrer in jene Provinzen gebracht werden, in denen sie registriert sind, droht den Migranten aus anderen Ländern die Abschiebung.

Die harte Linie könnte den Migrationsdruck auf die EU wieder erhöhen. Wenn sich nämlich Wirtschaftsflüchtlinge zur Flucht nach Griechenland entscheiden, um sich der drohenden Festnahme in der Türkei und der Abschiebung zu entziehen.

Bisher gibt es aber keine Anzeichen dafür, dass die türkischen Behörden das begünstigen, im Gegenteil: Allein in der vergangenen Woche wurden in der Provinz Edirne an den Grenzen zu Bulgarien und Griechenland 1259 irreguläre Migranten aufgegriffen.

Viele Flüchtlinge wollen nicht mehr zurück

„Wir müssen für Ordnung sorgen“, sagt Innenminister Süleyman Soylu. Der Minister dementiert Gerüchte, wonach die Regierung plane, syrische Flüchtlinge massenweise in ihre Heimat abzuschieben: „Keiner, der Schutzstatus genießt, wird deportiert – das dürfen wir nicht, und das wollen wir nicht“, so Soylu.

Nach Regierungsangaben sind allerdings bereits rund eine halbe Million Syrer in das Nachbarland zurückgekehrt – freiwillig, wie es ausdrücklich heißt.

Aber viele Flüchtlinge wollen nicht mehr zurück, selbst wenn wieder Frieden in ihrer Heimat einkehren sollte. Sie sind längst in der Türkei sesshaft geworden. Syrer haben bisher mehr als 15.000 Unternehmen in der Türkei gegründet. Doch sie haben es zunehmend schwer.

Besonders in Esenyurt. Dort hat Bürgermeister Alatepe bereits mehrere syrische Restaurants wegen angeblicher Hygienemängel schließen lassen. Die Restaurants müssen Luftfilter einbauen – damit der Geruch der scharf gewürzten Speisen die türkischen Passanten nicht belästigt.