Berlin. Rund 650.000 Menschen in Deutschland haben kein eigenes Zuhause. Drei Viertel sind Männer, viele kommen aus anderen EU-Staaten.

Kälte ist für Obdachlose gefährlich. Doch auch Hitze ist ein Risiko für Menschen, die auf der Straße leben. Durch die Rekordtemperaturen drohen den Obdachlosen Hitzschlag, Verbrennungen und Kreislaufkollaps, etwa weil sie zu wenig Wasser trinken. Im Winter gibt es Notunterkünfte, im Sommer fehlt dieser Schutz. Den Risiken sind in der Hitzewelle in Deutschland Zehntausende Menschen ausgesetzt.

Wie viele Obdachlose in Deutschland leben, woher sie kommen und welche Trends es gibt – das zeigt eine neue Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), die an diesem Dienstag in Berlin vorgestellt wird. Die Zahlen lagen unserer Redaktion vorab vor.

Wie viele Menschen in Deutschland sind ohne Wohnung?

Die aktuellsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2017. Damals waren etwa 650.000 Menschen ohne eigene Wohnung. Viele leben in Notunterkünften des Staates, können dort aber nur für ein paar Stunden in der Nacht unterkommen.

Unter den Wohnungslosen waren allein 375.000 anerkannte Asylsuchende in Flüchtlingsheimen und Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer. Rund 48.000 Menschen lebten ohne jede Unterkunft auf der Straße.

Im Laufe des Jahres verändert sich die Zahl der Wohnungslosen, manche finden ein neues Zuhause, andere verlieren ihre Wohnung oder kommen ohne Obdach nach Deutschland. Zum Zeitpunkt Ende Juni 2017 waren 440.000 Menschen ohne Wohnung.

Welche Daten gibt es?

Die Zahlen der Arbeitsgemeinschaft beruhen auf Schätzungen. Offizielle Zahlen der Bundesregierung: Fehlanzeige. Es gibt keine Statistiken – obwohl Fachleute und Hilfsvereine dies seit vielen Jahren fordern. Auch die Politik berief sich bisher auf die Schätzungen der BAGW, obwohl sie diese lange für zu ungenau erklärte.

Die nun aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft präziseren Daten basieren nach eigenen Angaben auf der behördlichen Zählung in Nordrhein-Westfalen – die Arbeitsgemeinschaft rechnet diese Zahlen auf Deutschland insgesamt hoch. Und auch die Regierung von Union und SPD will jetzt eine offizielle Obdachlosen-Statistik auf den Weg bringen.

Ein Gesetzentwurf liegt in den Ministerien zur Absprache. Demnach soll das Statistische Bundesamt erstmals 2021 die Zahl der Wohnungslosen erheben, die in Notunterkünften der Städte und Kommunen leben. Die Obdachlosen werden demnach offenbar nicht erfasst. Auf Nachfrage unserer Redaktion heißt es lediglich, dass die „Forschung“ zu dieser Gruppe verbessert werden soll.

Gibt es mehr Obdachlose in Deutschland?

Durch das neue Schätzmodell auf Basis der NRW-Angaben korrigiert die BAGW die Zahlen der Wohnungslosen für ganz Deutschland deutlich nach unten – um 210.000 Personen, also fast ein Viertel. Noch für das Jahr 2016 schätzte die BAGW entsprechend 858.000 Wohnungslose in Deutschland, gut die Hälfte davon waren Flüchtlinge.

Seit 2008 war die Zahl der Menschen ohne eigene Wohnung von Jahr zu Jahr angestiegen. Dennoch gibt die Geschäftsführerin der BAGW, Werena Rosenke, keine Entwarnung. Zwar sei die Zahl an Wohnungslosen in der neuen Hochrechnung deutlich niedriger als bislang angenommen. Doch würde man die neue Zählweise auf die vergangenen Jahre übertragen, sei ein Anstieg zu erkennen: um 15 bis 20 Prozent von 2016 auf 2017.

„Tatsächlich sind die Wohnungslosenzahlen beispielsweise in Bayern von 2016 auf 2017 um rund 29 Prozent angestiegen“, sagt Rosenke. In Nordrhein-Westfalen, das im Unterschied zu Bayern auch Flüchtlinge erfasst, waren es sogar 58 Prozent mehr.

Was wissen wir über die Herkunft der Menschen?

Laut BAGW sind mehr als 70 Prozent aller Menschen ohne Wohnung alleinstehend. Nur 30 Prozent leben mit Partnern und in einigen Fällen auch mit Kindern in Notunterkünften oder auf der Straße. Die Arbeitsgemeinschaft schätzt die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter den Wohnungslosen auf acht Prozent, 2017 waren es in ganz Deutschland 22.000 junge Menschen.

Die meisten Wohnungslosen sind Männer, nur gut ein Viertel sind Frauen. Diese Zahlen beinhalten jedoch nicht die wohnungslosen Migranten, unter denen die Zahl der jungen Menschen und Familien noch deutlich höher liegen dürfte.

Unter den Obdachlosen, die nicht in einer Wohnunterkunft des Staates leben, sondern auf der Straße schlafen, sind viele Menschen aus anderen EU-Staaten, vor allem aus Osteuropa. Die „Straßenobdachlosigkeit“ sei stark durch die Zuwanderung aus EU-Ländern nach Deutschland geprägt, schreibt die BAGW in ihrer Analyse der aktuellen Zahlen.

Hintergrund: Woher kommt die zunehmende Gewalt gegen Obdachlose?

Welche Forderungen gibt es im Kampf gegen Obdachlosigkeit?

Im Kampf gegen Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit fordert Geschäftsführerin Rosenke etwa, dass ein bestimmter Anteil sozial gebundener Wohnungen ausdrücklich für Wohnungslose bereitgestellt werde. Also eine Art Quote für Obdachlose, wenn neue Wohnungen belegt werden.

Zudem schlägt Rosenke vor, dass Kommunen mithilfe von Anreizen sicherstellen, dass auch langjährige Wohnungslose eine Chance bei Unternehmen und privaten Vermietern hätten. Nach Angaben der BAGW fehlt für eine steigende Zahl an Menschen, die wenig verdienen oder von staatlichen Leistungen leben müssen, bezahlbarer Wohnraum. „Benötigt werden pro Jahr 80.000 bis 100.000 neue Sozialwohnungen und weitere 100.000 bezahlbare Wohnungen“, schreibt der Verein. Vor allem kleine Wohnungen sind nachgefragt. Auch der Mieterbund gibt an, dass jährlich 80.000 Sozialwohnungen gebaut werden müssten.

Doch entgegen den Plänen der Bundesregierung läuft der Bau von günstigen Wohnungen schleppend. Laut einem Bericht der dpa wurden 2018 bundesweit 27.040 Wohnungen gebaut, die vom Bund gefördert wurden. Das sind gerade einmal 809 Wohnungen mehr als 2017. Der Bauboom von Sozialwohnungen bleibt aus. Die Bundesregierung will in dieser Legislaturperiode noch einmal fünf Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellen – also vor allem Förderung von Firmen und Vermietern, die günstigen Wohnraum schaffen oder Sozialwohnungen modernisieren. Da staatlich geförderte Wohnungen nach einigen Jahren aus der Sozialbindung fallen, sank die Zahl der bezuschussten Wohnungen 2018 auf bundesweit 1,219 Millionen – trotz der Neubauten.

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Bundesbauminister Horst Seehofer (CSU) gab unlängst den Bundesländern die Schuld an dem ausbleibenden Bauboom im Sozialen. Sie würden nicht ausreichend mitziehen bei den staatlichen Zuschüssen.

Die Grünen sprechen dagegen von einem „Armutszeugnis“ bei der Sozialpolitik der großen Koalition. Die Linke-Abgeordnete Caren Lay sagte: „Der soziale Wohnungsbau bleibt das Stiefkind der Wohnungspolitik der Bundesregierung.“ Im 2018 beschlossenen Koalitionsvertrag hielten Union und SPD fest: „Wir wollen erreichen, dass 1,5 Millionen Wohnungen und Eigenheime frei finanziert und öffentlich gefördert gebaut werden. Hierzu gehört auch, dass der Bestand an bezahlbarem Wohnraum gesichert wird.“ Nach dem Wort „Obdachlosigkeit“ sucht man vergeblich.