Berlin. In Deutschland leben über 52.000 Menschen auf der Straße. Die angezeigten Übergriffe auf sie nehmen zu. Und die Dunkelziffer ist hoch.

Die Meldungen kommen fast im Wochentakt. Ermittlungen in Berlin: Zwei Obdachlose im Schlaf mit Benzin übergossen und angezündet. Hamburg: Obdachloser mit Messer angegriffen und lebensgefährlich verletzt. Bochum: Der Täter reißt einen 55 Jahre alten Mann nieder, der auf der Straße lebt, und bewirft ihn mit faustgroßen Steinen.

Menschen, die obdachlos sind, haben keine Wände aus Beton, die sie vor Angriffen schützen. Wer auf der Straße lebt, bekommt auch viel vom Leben auf der Straße mit: Gewalt, Wut, Frustration. Das ist nicht neu. Doch zwei Trends machen die Meldungen aus deutschen Städten zu einem Politikum: Immer mehr Menschen in Deutschland sind obdachlos. Und immer häufiger werden die Menschen Opfer von Straftaten – sie werden getreten, bespuckt, bestohlen. Und ermordet.

Zahl der Straftaten gegen Obdachlose verdoppelt

In den vergangenen Jahren haben sich die Straftaten gegen Obdachlose mehr als verdoppelt – von 602 im Jahr 2011 auf 1389 im vergangenen Jahr. Auch die Zahl von Gewalttaten gegen Menschen, die auf der Straße leben, ist stark gestiegen: von 249 Delikten 2011 auf 592 Angriffe 2017.

Allein 70 Mal ermittelte die Polizei in dieser Zeit wegen Mord (29 Fälle) und Totschlag (41 Fälle). In acht Mordfällen sollen die Täter laut Bundeskriminalamt Rechtsextremisten gewesen sein. Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor, die unserer Redaktion vorliegt.

Mordkommission ermittelt nach Brandanschlag auf Obdachlose

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    Opfer melden Straftaten aus Angst häufig nicht

    Fast immer sind die Opfer von Gewalt Männer, im genannten Zeitraum zwischen 84 und 90 Prozent. Nur bei Straftaten wie Missbrauch oder Vergewaltigung war es umgekehrt: Hier liegt der Anteil der Männer je nach Jahr der begangenen Straftat zwischen 13 und 31 Prozent. Und auch die Delikte sexualisierter Gewalt sind von 2011 bis 2017 rasant gestiegen: von 16 auf 61 Fälle, die die Polizei registrierte. Wer sind die Opfer? Wer die Täter? Und wo erreichen die Statistiken der Polizei ihre Grenzen?

    In deutschen Großstädten harren Obdachlose in Einkaufspassagen aus, schlafen unter Brücken oder in einem Zelt in einer dunklen Ecke im Park. Obdachlosigkeit ist Alltag in Deutschland – doch nur wenige Statistiken erfassen das Leben dieser Menschen. Seit 2011 registriert die Polizei, wer die Opfer von Straftaten wie Mord, Körperverletzung oder Vergewaltigung sind. In der sogenannten Polizeilichen Kriminalstatistik, der PKS, gibt es auch das Merkmal „obdachlose Person“. In einer weiteren Statistik, dem Kriminalpolizeilichen Meldedienst, erfasst die Polizei auch Straftaten, die politisch motiviert sind. Kriminalität aus Hass gegen andere. Obdachlose sind hier laut Bundeskriminalamt nicht als eigene Opfergruppe regis­triert, sondern in der Kategorie „niedrige soziale Schicht“.

    Opfer melden Straftaten häufig nicht

    Doch die Zahlen der Polizei unterscheiden sich von den Angaben ziviler Organisationen. Die Amadeu Antonio Stiftung zählte nicht acht sondern 26 getötete Obdachlose durch rechtsextreme Täter seit 1990. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) zählte zwischen 2011 und 2017 fast 150 Gewaltdelikte, bei denen Obdachlose getötet wurde. Also mehr als doppelt so viele wie die Polizei. Seit 1989 wertet der Verein Presseberichte über Straftaten gegen Wohnungslose aus. Seitdem starben demnach 528 Menschen auf der Straße durch Gewalt.

    Anders als die Polizei sieht der Verein auch die Vertreibung von Obdachlosen aus Einkaufsstraßen oder Parks als Form der Gewalt – ein Grund, warum sich die Statistiken unterscheiden. Sowohl die Polizei als auch die Bundesarbeitsgemeinschaft gehen von hohen Dunkelziffern aus: Häufig melden Opfer Straftaten nicht, die Angst und Skepsis gegenüber dem Staat sind hoch. Nicht wenige berichten von schlechten Erfahrungen mit der Polizei, die auch anrückt, wenn sich Anwohner oder Ladenbesitzer über obdachlose Menschen beschweren.

    Experten rechnen mit mehr Obdachlosen

    Warum steigt die Gewalt so deutlich an? Ein Grund kann die gewachsene Zahl von Obdachlosen in Deutschland insgesamt sein. Die Bundesregierung gibt zu, dass sie keine „amtlichen Daten“ hat. Der Verein BAGW zählte 2016 bundesweit 52.000 Obdachlose, 2014 waren es noch 39.000. Der Grund: steigende Mieten, zu wenige Sozialwohnungen, Mangel vor allem bei kleinen Wohnungen mit einem oder zwei Zimmern. Auch wer alleinerziehend ist, trägt ein höheres Risiko, aufgrund von Armut auf der Straße zu landen. Und die Zahl der Alleinerziehenden steigt.

    Für 2018 rechnet die Bundesarbeitsgemeinschaft mit einem deutlichen Anstieg – zumal die Flüchtlinge ohne eigene Wohnung noch nicht in den Statistiken enthalten sind. Seit 2015 kam rund eine Million Schutzsuchende nach Deutschland. Wie viele von ihnen auf der Straße leben, bleibt ein blinder Fleck in der deutschen Asylpolitik. Und: Seit 2017 haben EU-Bürger auf Jobsuche in Deutschland weniger Ansprüche auf Sozialleistungen. Eine Maßnahme, mit der die Regierung auf die wachsende Zahl von Armutsmigranten aus osteuropäischen Staaten wie Rumänien und Bulgarien reagiert hat. Auf deutschen Straßen leben mittlerweile sehr viele osteuropäische Obdachlose.

    Höherer Konkurrenzdruck unter Menschen auf der Straße

    Die wachsende Zahl Wohnungsloser erhöht den Konkurrenzdruck der Menschen auf der Straße untereinander: Der Kampf um Schlafplätze, die Chance auf etwas mehr Besitz durch einen schnellen Diebstahl, aber auch die Auseinandersetzungen mit Anwohnern und Ladenbesitzern, die Verdrängung aus Stadtzentren – all das erhöht nach Ansicht von Experten die Aggressivität der Obdachlosen. Und die richtet sich oft gegen andere Obdachlose.

    So gehen laut BAGW deutlich mehr als die Hälfte der Tötungsdelikte gegen Wohnungslose seit 1990 auf das Konto anderer, die auf der Straße leben. Arbeiten von Forschern zeigen: Wenn nicht Obdachlose selbst die Täter sind, so greifen häufig Menschen an, die sich selbst als Verlierer in der Gesellschaft sehen. Gewalt gegen Schwächere als Entlastungsaggression für das eigene Scheitern, das eigene Gefühl der Ausgrenzung. Prügel austeilen, um ein Überlegenheitsgefühl zu demonstrieren, das Täter sonst selten spüren. Im Juni 2017 verurteilt ein Berliner Gericht mehrere junge Flüchtlinge aus Syrien, weil sie in einem U-Bahnhof einen Obdachlosen anzünden wollten.

    Menschen, die auf der Straße leben, sind leichte Ziele. Wer seinen Nachbar angreift, muss mit Anzeige und Ächtung rechnen. Wer einen unbekannten Menschen in einer dunklen Straßenecke verprügelt, kommt oft ungestraft davon.

    Randgruppen werden schnell zu Geächteten

    Doch lässt sich wachsende Gewalt gegen Obdachlose aus Sicht von Experten nicht allein damit erklären, dass mehr Menschen auf der Straße leben. Insgesamt hat Hasskriminalität in Deutschland zugenommen – sie richtet sich gegen Geflüchtete, Frauen, Polizisten, aber eben auch Obdachlose. Ein Täter schlägt zu, weil er Vorurteile gegen andere Menschen hat. Randgruppen wie Obdachlose werden schnell zu Geächteten – gerade aber nicht nur rechts der Mitte. Die Meinung, Bettler müssten „aus Fußgängerzonen entfernt werden“, würden nach einer Studie des Bielefelder Forschers Andreas Zick Befragte aller Schichten vertreten. „Man möchte Obdachlose nicht sehen“, sagte Zick dem Straßenmagazin „Hinz & Kunzt“. „Und aus dem Vorurteil kann Handeln entstehen, wenn sich die Gelegenheit ergibt.“

    Zu den Tätern bei Übergriffen auf Wohnungslose zählen in vielen Fällen junge Männer, alleine oder in einer Gruppe. Sie führen die Kriminalstatistik der Polizei auch bei vielen anderen Delikten an. Und so bleibt angesichts mangelnder Analyse auch Unsicherheit über die Motive der Gewalt gegen Obdachlose. „Die kontinuierlich gestiegene Zahl der Gewalttaten gegen obdachlose Menschen ist besorgniserregend“, sagt die Innenexpertin der Linksfraktion im Bundestag Ulla Jelpke unserer Redaktion. Die momentane Erfassung von Straftaten sei jedoch unzureichend. „Registriert werden einerseits Straftaten zum Nachteil von Obdachlosen – allerdings ohne Angabe des Motivs.“ Jelpke erwarte, dass „die Bundesregierung nach Erklärungen für das gestiegene Gewaltniveau sucht und entsprechende Gegenmaßnahmen entwickelt“.

    Gewalt aufgrund von Vorurteilen gegen Menschen, die auf der Straße leben, sieht die Bundesregierung vor allem durch rechtsextreme Täter. Das zeige ein Lagebild des BKA. Nur in wenigen Einzelfällen sei ein politischer Hintergrund einer Attacke auf einen Wohnungslosen nicht zu erkennen. Dass sich Motive der Angreifer oder gar die Tätergruppen ändern, erkenne die Bundesregierung nicht. Den Aufbau eines speziellen polizeilichen Registers von Übergriffen gegen Obdachlosen hält das Bundesinnenministerium nicht für notwendig.