Brüssel. Die erneute Vertagung des britischen Austritts ist ein Fehler. Der langfristige Schaden für das EU-Parlament ist kaum zu unterschätzen.

Dieser Gipfelbeschluss ist ein Fehler. Die abermalige Vertagung des britischen EU-Austritts mit vagen Aussichten ist ein fauler Kompromiss, der den Regierungschefs schnell auf die Füße fallen wird. Die Hängepartie geht weiter: Brexit bis Ende Oktober vertagt. Jetzt sitzt die EU endgültig in der Brexit-Falle.

Ja, der drohende Chaos-Austritt des Vereinigten Königreichs an diesem Freitag musste vermieden werden. Aber doch nicht so, zu diesem Preis. Mit einem Zeitplan, der nur dafür sorgt, dass die quälende Ungewissheit über den Briten-Abschied und die Zukunft der Union weiter anhält. Offiziell sechs Monate, wahrscheinlich sogar noch länger, denn eine erneute Zugabe im Herbst ist schon jetzt nicht ausgeschlossen.

Brexit-Streit wird Klima in der EU weiter vergiften

Die Verlängerung ist zu kurz, um wirklich einen Neubeginn in Großbritannien zu schaffen, etwa mit einer zweiten Volksabstimmung, die so schnell nicht machbar ist. Sie ist aber auch zu lang, wenn es nur darum geht, einen letzten Versuch zur Einigung im Unterhaus zu unternehmen und bei Misserfolg einen vertragslosen Austritt halbwegs ordentlich zu organisieren. Auch das wäre eine Alternative.

Mit diesem Kompromiss ist der Einigungsdruck in London erstmal weg. Und nun? Der Scheidungsstreit wird das Klima in der EU noch mehr vergiften als bisher. Er wird die europäische Politik weiter Zeit und Kraft kosten und nun leider auch noch die Europawahlen dominieren.

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Der Schaden für das EU-Parlament ist kaum zu unterschätzen: Es wird unverschuldet zur leichten Zielscheibe der Brexit-Wut und muss dann wohl 73 britische Abgeordnete beherbergen, die nur auf Abruf und mit fragwürdiger Mission im Parlament sitzen, aber an wichtigen Entscheidungen das Zünglein an der Waage sein werden.

Die EU-Spitzen werden schnell merken, dass die erhoffte Ruhe an der Brexit-Front nicht eintritt.

Theresa May hat im Brexit-Streit die Kontrolle verloren

Vor dem Sondergipfel hatten die Regierungschefs versichert, eine abermalige Gnadenfrist werde es nur geben, wenn die Premierministerin einen glaubhaften Weg aufzeigt, wie sie doch noch einen geregelten Austritt organisieren wird.

Hat sie aber nicht, kann sie auch nicht: May hat keine Mehrheit im Parlament für diesen Brexit-Deal, sie hat die Kontrolle verloren, an einen Erfolg ihrer Last-Minute-Gespräche mit Oppositionschef Jeremy Corbyn glaubt in Brüssel kaum jemand.

Und trotzdem bekommt sie jetzt einen Aufschub, dessen Lasten zum Gutteil die EU trägt. Warum? Weil in Wahrheit auch die EU-Spitzen beim Brexit einen fundamentalen strategischen Fehler begangen haben.

Kommentar: Brexit-Chaos und die EU: May soll gehen, die Briten nicht

EU hat sich verzockt

Bei den Verhandlungen zum Austrittsvertrag mit Großbritannien hat die Kommission im Auftrag der 27 Regierungschefs eine unnötige Härte an den Tag gelegt, nur um ein Exempel zu statuieren. Scheiden tut weh, drinnen ist schöner als draußen – das ist die Lektion, die den Briten erteilt werden sollte und gleich allen EU-Kritikern auf dem Kontinent dazu.

Die EU-Granden haben sich damit selbst klein gemacht. Und sie haben nicht zu Ende gedacht: Wer solche Härte zeigt, muss im Zweifel auch konsequent sein. Die EU-Regierungschefs drohen aber nur mit dem No-Deal, der Scheidung ohne jede Regelung, in Wahrheit fürchten sie diesen Schritt mindestens so sehr wie Großbritannien.

Sie wollen auf keinen Fall Schuld sein am chaotischen Brexit, der auch die Wirtschaft auf dem Kontinent in Mitleidenschaft ziehen würde, und sie sehen die nachhaltigen Folgeschäden für die Beziehungen zum Königreich voraus. Im Ergebnis sitzen die EU-Staaten jetzt mit in der Grube, die für die Nachbarn auf der Insel gedacht war.

Vertagungs-Theater mit seinen vielen Risiken und Nebenwirkungen

May hatte schon das richtige Gespür beim Verhandlungs-Poker. Die Premierministerin hat immer darauf gebaut, dass die EU am Ende vor der chaotischen Trennung zurückscheut. Nur erlag sie dabei dem Irrtum, dass ihr die Regierungschefs in letzter Minute entgegenkommen mit Änderungen am Vertrag, damit sich doch noch eine Mehrheit im Unterhaus findet.

Diesen Gefallen will man ihr (noch) nicht tun. Das ausgehandelte Abkommen, das so offensichtlich sein Ziel verfehlt, gilt als sakrosankt. Aber ist das Vertagungs-Theater mit seinen vielen Risiken und Nebenwirkungen wirklich eine bessere Lösung als kleine Korrekturen an den Scheidungspapieren? Die Denkpause, die man der Politik in London jetzt von oben herab empfiehlt, hat Brüssel selbst dringend nötig. (Christian Kerl)