Brüssel. Die erste große Klippe beim Brexit ist umschifft und der Weg ist frei für die zweite Phase. Die dürfte aber noch schwieriger werden.

Morgens um sieben ist die Welt für Theresa May wieder halbwegs in Ordnung. Mitten in der Nacht ist sie mit der Royal Airforce von London nach Brüssel geflogen, um beim Frühstück mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker endlich eine Einigung über die Bedingungen des britischen EU-Austritts zu erzielen. Im Gepäck hat May die nächtliche Zusage ihres Koalitionspartners, der nordirischen DUP, einen neuen Brexit-Kompromiss mitzutragen – nachdem die DUP May erst am Montag zum hochpeinlichen Rückzug aus Brüssel gezwungen hatte.

Nun sitzt sie also mit Juncker zum zweiten Mal in dieser Woche im zentralen Gebäude der EU-Kommission zusammen, zu bereden gibt es aber nicht mehr viel: Schon kurz nach Beginn des Treffens gegen 7 Uhr verschickt Junckers Kabinettschef Martin Selmayer per Twitter ein Bild, auf dem weißer Rauch aufsteigt.

Die grundsätzliche Einigung zwischen EU und Großbritannien über die Brexit-Scheidungspapiere steht, das bestätigen Juncker und May kurz darauf in einer Pressekonferenz. „Die Verhandlungen sind nicht einfach, aber uns ist jetzt ein erster Durchbruch gelungen“, sagt Juncker und spricht von einem „fairen Deal“.

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Verhandlungen über Handelsabkommen und Sicherheit

Großbritannien und die EU hätten sich bei allen drei Knackpunkten – Geld, Bürgerrechte, Grenze – verständigt. Wenn sich die 27 Mitgliedstaaten nächste Woche beim EU-Gipfel in Brüssel dieser Bewertung anschlössen, wovon sicher auszugehen ist, sei der Weg frei, damit die Kommission „sofort die zweite Phase der Verhandlungen in Angriff nehmen kann“. Jetzt werde man über die „positive Zukunft“ der Beziehungen reden, sagt auch May, über ein Handelsabkommen etwa oder gemeinsame Sicherheit. Wäre es nach ihr gegangen, hätten sie längst darüber gesprochen.

Aber die EU hatte gegen alle Widerstände Großbritanniens zur eisernen Bedingung gemacht, dass erst ausreichend Fortschritte bei der Klärung der Austrittsmodalitäten erzielt werden, bevor in Phase zwei die künftigen Beziehungen in den Blick genommen werden. Für May ist der Durchbruch ein Triumph, zumal nach dem demütigenden Abbruch am Montag, für Juncker ist es eine große Erleichterung. Doch als die beiden gefragt werden, ob es Champagner zum Frühstück gegeben habe, winken sie müde ab. Zum Jubeln ist niemandem zumute.

Feinarbeit bei Knackpunkten erforderlich

Viel Porzellan ist schon zerschlagen worden, das persönliche Verhältnis der spröden May und des kumpelhaften Juncker ist durch unschöne Indiskretionen belastet. Juncker betont zudem: „Ich werde immer traurig sein über den Austritt des Vereinigten Königreichs.“ Beide wissen auch, dass die Einigung mindestens einen Makel hat. Der Streit, an dem die Verständigung am Montag noch scheiterte, ist auch jetzt nicht wirklich geklärt: Zur Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland macht die britische Regierung zwar die Zusage, dass es keine Personen- und Zollkontrollen geben werde.

Brüssel empfiehlt Einstieg in zweite Phase der Brexit-Gespräche

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    Zugleich wird aber auch die „konstitutionelle und ökonomische Integrität des Vereinigten Königreichs“ garantiert. Wie das zusammenpassen soll, ist unklar; man wird sich im Zuge der Handelsgespräche damit befassen. EU-Chefunterhändler Michel Barnier sagt: „Niemand sollte die Schwierigkeiten unterschätzen, die wir mit diesem Thema noch haben werden.“ Bei den anderen Knackpunkten ist noch viel Feinarbeit erforderlich. Im Streit um die Bürgerrechte ist die EU-Kommission den Briten entgegengekommen, der Europäische Gerichtshof wird nicht das letzte Wort in Streitfällen haben.

    Anfang nächsten Jahres soll Stufe zwei beginnen

    Gleichzeitig ist aber gesichert, dass alle britischen und EU-Bürger weiterhin dort leben und arbeiten dürfen, wo sie es bisher taten. Bei den finanziellen Verpflichtungen haben sich Brüssel und London auf eine Berechnungs-Methode verständigt – Großbritannien zahlt anteilsmäßig für die gemeinsam beschlossenen Verpflichtungen der EU. Eine genaue Summe steht noch nicht fest, in Brüssel ist von etwa 50 bis 55 Milliarden Euro die Rede, in London von 40 bis 45 Milliarden.

    Während die Arbeit an den Scheidungspapieren also weitergeht, soll Anfang nächsten Jahres die Stufe zwei beginnen: Zunächst will die EU über die Übergangsphase nach dem Brexit reden, in der Großbritannien wohl noch für zwei Jahre im Binnenmarkt und der Zollunion bleibt, die EU-Beiträge zahlen und die EU-Regeln einhalten muss; gibt es hier Fortschritte, sollen rasch die Gespräche über ein Handelsabkommen starten. Es werde dem Freihandelsabkommen mit Kanada ähneln, meint EU-Chefverhandler Barnier.

    Wirtschaftsverbände sind erleichtert über Durchbruch

    Großbritannien erhofft sich mehr, es will eine Vorzugsbehandlung. Neuer Streit ist absehbar, in Brüssel macht sich niemand Illusionen. „Die schwierigste Herausforderung steht noch bevor“, warnt Ratspräsident Donald Tusk, der später am Morgen ebenfalls mit May zusammensitzt. „Sich zu trennen, ist schwierig. Aber sich zu trennen und gleichzeitig ein neues Verhältnis aufzubauen, ist viel schwieriger.“ Der Chef der christdemokratischen EVP-Fraktion, Manfred Weber (CSU), warnt London davor, sich jetzt „zurückzulehnen“. Ob die zwei Phasen der Verhandlungen erfolgreich werden, sei offen, meint Weber.

    Auch der Bundesverband der deutschen Industrie stellt klar: „London darf sich keinen Illusionen hingeben. Der schwierigste Teil der Verhandlungen liegt noch vor uns.“ Dennoch zeigen sich die Wirtschaftsverbände erst einmal erleichtert über den Durchbruch. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Eric Schweitzer, nennt die Einigung sogar „ein verspätetes Nikolausgeschenk für die deutsche Wirtschaft“.

    Einen Kommentar zum Thema finden Sie hier: Ein tragischer Irrtum