Paderborn. Er war eines der 30 Opfer, die in Lügde missbraucht wurden. Weil er selbst zum Täter wurde, stand er vor Gericht – und blieb straffrei.

Auf einem Campingplatz in Lügde kam es zu hundertfachem sexuellen Missbrauch von Kindern. Der Haupttäter wurde Anfang September zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt, der Mitangeklagte erhielt 12 Jahre Haft. An diesem Donnerstag musste sich einer der Jugendlichen nun selbst vor dem Landgericht Paderborn verantworten, weil er vom Opfer zum Täter geworden sein soll. Der Prozess endete mit einem Freispruch.

Dem 16-Jährigen wurde der sexuelle Missbrauch mehrerer Kinder vorgeworfen (Az.: 5 Kls 16/19). Die Richter schlossen sich aber den Ausführungen eines Gutachters an, wie ein Sprecher am Donnerstagmittag mitteilte. Der Experte hatte dem Angeklagten die strafrechtliche Verantwortungsreife abgesprochen.

Laut Jugendgerichtsgesetz (JGG) kann ein Jugendlicher nur verurteilt werden, wenn seine geistige Entwicklung dies zulässt. Voraussetzung ist, dass er das Unrecht seiner Taten auch einsieht und danach handelt.

Lügde: Teenager soll Kinder missbraucht haben

Die Staatsanwaltschaft hatte sich nach Angaben des Verteidigers des 16-Jährigen für eine Freiheitsstrafe auf Bewährung ausgesprochen – unter der Auflage, dass er seine Therapie fortsetzt. Dem folgten die Richter nicht. Alle Verhandlungstage fanden zum Schutz des Jugendlichen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Das galt auch für die Urteilsverkündung.

Der Fall in Lügde hatte Ende vergangenen Jahres für Aufsehen gesorgt. Zwei Männer hatten auf einem Campingplatz an der Landesgrenze von Nordrhein-Westfalen zu Niedersachsen mindestens 32 Kinder sexuell missbraucht – jahrelang.

Der nun angeklagte Jugendliche war selbst Opfer. Laut seinem Verteidiger Thorsten Fust wurde der heute 16-Jährige im Alter von 10 bis 14 Jahren vielfach missbraucht. Der Teenager war bei den Ermittlungen als Zeuge vernommen worden und hatte dabei seine Taten geschildert.

Wie aus Opfern Täter werden

Dass aus Opfern später Täter werden können, bestätigen Experten. „Das Phänomen gibt es. Natürlich ist das nicht in allen Fällen so, aber wir registrieren das bei einem deutlich erhöhten Prozentsatz“, sagt Andreas Schulze von der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Marsberg. Der Psycholog e betreut dort Jugendliche.

Angehörige begrüßen hohe Haftstrafen im Lügde-Prozess

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    „Menschen lernen durch Nachmachen dessen, was sie erleben. Ein Mensch mit Missbrauchserfahrung „lernt“ vor allem an dem, was er selbst erlebt hat. Dies passiert nicht immer bewusst. Gerade dann, wenn der Missbrauchte massive sexuelle Missbrauchserfahrungen machen musste, dann sind genau diese Erfahrungen das, was er oder sie kennt“, sagt Schulze.

    Opfer entwickeln starkes Bedürfnis nach Kontrolle

    Er betont, dass er sich zu dem Fall des 16-Jährigen, der vor dem Landgericht Paderborn steht, nicht äußern kann und will, weil er den Angeklagten nicht kennt.

    „Den Sexualstraftäter gibt es nicht. Wir müssen immer die unterschiedlichen Motive herausarbeiten“, sagt der Diplom-Psychologe über seine Arbeit. Generell gelte: „Opfer erfahren ein absolutes Ohnmachtsgefühl und sind hilflos. Das wollen sie „nie wieder“ erleben und entwickeln als Gegenreaktion ein unglaublich starkes Bedürfnis nach Kontrolle.“ Aus dem Opfer könne dann ein Täter werden. (dpa/guhe/jkali)