Berlin. Nach tödlichen Schüssen in Hamburg: Wer sind die Zeugen Jehovas und woran glauben sie? Experten ordnen die Glaubensgemeinschaft ein.

„Wir würden gern mit Ihnen über Gott sprechen“ – sie stehen in U-Bahnhöfen, in Fußgängerzonen oder klingeln an der Tür: Jehovas Zeugen. Adrett gekleidet, höflich, fromm – und doch werden sie meist abgewimmelt. Denn so harmlos, wie sie sich bei der Werbung um neue Mitglieder geben, sind sie nicht.

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„Die Mitglieder der Zeugen Jehovas wollen sich nicht mit unserer Welt gleichstellen, sie grenzen sich sehr stark ab“, sagt Matthias Pöhlmann, Experte für Sekten und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, dieser Redaktion. Das gilt nicht nur nach außen: Zeugen Jehovas nehmen nicht an Wahlen teil und lehnen Kontakte zu anderen Kirchen ab. Die Gemeinschaft ist ein nach innen abgeschirmtes, kontrollierendes System.

Treffen finden nicht in Kirchen, sondern sogenannten Königreichssälen statt. Insgesamt hat die Glaubensgemeinschaft in Deutschland weniger als 200.000 Mitglieder, weltweit sind es etwa 8 Millionen.

Hierarchischer Druck ist unter den Zeugen Jehovas enorm

Die Leitung obliegt einem mehrköpfigen Männer-Gremium in den USA. „Heute spricht man davon, dass dieses Leitungsgremium „Jehovas verständiger Sklave“ sei“, erklärt Pöhlmann. „Diese Organisation ist also ganz stark von oben nach unten aufgebaut: Kritik, Zweifel, Fragen sind da nicht zugelassen.“ Purer Gehorsam ist unbedingt gefordert, so der Experte.

Fundamental und konfliktträchtig sind weitere Attribute, die Pöhlmann den Zeugen Jehovas zuschreibt. „Die Mitglieder bewegen sich in einem geschlossenen Glaubenssystem, es gibt einen hierarchischen Druck und auch Sozialkontrolle innerhalb der Organisation. Merkt ein Mitglied, dass ein Zeuge Jehovas gegen Regeln verstößt, soll er das der Leitung melden“, erklärt Pöhlmann.

Die Zeugen Jehovas grenzen sich scharf von der Außenwelt ab.
Die Zeugen Jehovas grenzen sich scharf von der Außenwelt ab. © dpa | Matthias Balk

Was bei Uneinsichtigkeit folgt, ist der sogenannte Gemeinschaftsentzug: Soziale Kontakte zum Ausgeschlossenen werden abgebrochen, Familie und Freunde wenden sich ab. „Kritiker und Aussteiger stehen dann vor dem Nichts“, sagt Pöhlmann. Zwar gehen sie meist Berufen in der Mitte der Gesellschaft nach. Doch Kontakte mit Menschen außerhalb der Gemeinschaft sind unüblich.

Bluttransfusionen verstoßen gegen Willen Jehovas

Zwar berufen sich die Zeugen Jehovas auf die Bibel, vertreten jedoch zahlreiche Sonderlehren – etwa das Verbot von Bluttransfusionen. Das sei gegen den Willen Jehovas, also Gottes. „Sollte der einzelne dies dennoch tun, wird das als Abfall von Jehova gedeutet“, erklärt Pöhlmann. Allerdings könne der Betroffene, erhält er doch eine Bluttransfusion, Reue zeigen und wieder in die Gemeinschaft zurückkehren.

„Es ist aber unklar, wie diese Reue aussehen soll“, so der Experte. „So erzeugen die Zeugen Jehovas immer wieder seelische Konflikte bei den Menschen, vor allem im Verhältnis zu Außenstehenden.“ Der Hamburger Pastor Jörg Pegelow, Verantwortlicher für Weltanschauungsfragen bei der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, hält diesen Abgrenzungsdruck für einen der Gründe, warum zweifelnde Mitglieder mit einem endgültigen Ausstieg hadern.

Warten auf das „Harmagedon“, das jüngste Gericht

„Es ist durchaus möglich, dass sich Zeugen Jehovas trotz innerer Zweifel gleichwohl nicht von der Gemeinschaft trennen, weil sie die oft begründete Sorge haben, einen Großteil ihrer sozialen Kontakte zu verlieren“, sagt Pegelow. Zwar bezeichnet er die Gemeinde der Zeugen Jehovas in Hamburg als unauffällig. Streit oder Konflikte innerhalb der Gemeinschaft seien ihm nicht bekannt, so Pegelow. Dennoch meldeten sich bei ihm gelegentlich Aussteiger oder Mitglieder der Gemeinschaft, die aussteigen wollen.

Laut ihrer Lehre warten die Zeugen Jehovas auf den letzten Tag, auf die Endzeitschlacht zwischen den Guten, zu denen sie sich selbst zählen, und den Bösen – allen anderen. Sie nennen das „Harmagedon“. Dann, so der Glaube, werden alle Ungläubigen vernichtet und die Zeugen Jehovas auf einer paradiesischen Erde ewig weiterleben. Da ihre Bibel, die „Neue Welt Übersetzung“, Weihnachten, Ostern oder Geburtstage nicht kennt, lehnen sie diese Feiertage als unbiblisch ab.

Zeugen Jehovas- Die wichtigsten Fragen und Antworten