Hamburg. Ein 35-Jähriger soll in Hamburg sechs Menschen, ein ungeborenes Kind und sich selbst getötet haben: Was man bisher zu den Motiven weiß.

  • Bei einer Veranstaltung der Zeugen Jehovas in Hamburg hat ein Mann mehrere Menschen erschossen
  • Acht Menschen kamen ums Leben, darunter auch der mutmaßliche Täter sowie ein ungeborenes Kind
  • Der mutmaßliche Täter, Philipp F., war ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas
  • Was bisher bekannt ist

Es ist 21 Uhr, als Philipp F. die Fensterschreibe im Erdgeschoss zerschießt und auf die Menschen im Saal im Inneren des Gebäudes feuert. Knapp 40 Personen halten sich dort auf, es sind Mitglieder der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Zwei Dutzend Anhänger sind digital zu dem Gottesdienst in der Gemeinde im nördlichen Hamburg zugeschaltet, als Philipp F. seine Gewalttat beginnt.

Gerade noch war eine Frau seinen Schüssen entkommen, die mit ihrem Auto auf das Gelände einbiegen wollte. Der Täter feuerte zehn Schüsse auf den Wagen, verletzte die Frau nur leicht. Die Fahrerin raste weg, hielt in Entfernung an, rief die Polizei. So wird der Tathergang später geschildert.

Um 21.04 Uhr gehen Notrufe bei der Feuerwehr und der Polizei ein, mehrere zeitgleich, auch aus dem Gebäude der Zeugen Jehovas selbst, das an der mehrspurigen Hauptstraße liegt. Dort steigt der Täter laut Augenzeugenberichten durch das eingeschossene Fenster und schießt auf die Gläubigen.

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Amoklauf in Hamburg: Was bisher bekannt ist

In diesen wenigen Minuten wird der Mann insgesamt neun Magazine mit jeweils 15 Schuss aus einer Handfeuerwaffe der Marke Heckler & Koch verschießen, Pistolen-Typ P30, Kaliber 9 mm. Insgesamt 135 Schuss, im Rucksack weitere Munition. Später entdecken Ermittler weitere Magazine und 200 Patronen, als sie die Wohnung von Philipp F. durchsuchen.

Der Hamburger Innensenator Andy Grote wird am Tag nach der Tat sagen, dass es ein großes Glück war, dass ganz in der Nähe noch eine Spezialeinheit der Polizei im Dienst gewesen sei. Um 22 Uhr ist Schichtende. Um 21.08 Uhr, vier Minuten nach den ersten Notrufen, sind die Polizisten am Tatort. Das Hamburger Polizeipräsidium, wo die Einheit stationiert ist, liegt ganz in der Nähe.

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Eine Minute später stürmen die Beamten das Haus. Sie hören Schüsse, sie sehen, so berichtet es der Einsatzleiter später, Menschen im Saal auf dem Boden liegen. Die Polizisten sehen, wie Philipp F. über die Treppe in die erste Etage flieht, eine Waffe in seiner Hand. In diesen ersten Minuten ist den Ermittlern noch unklar, ob der Täter allein ist. Es gibt Videoaufnahmen, die einen zweiten Angreifer vermuten lassen.

Schüsse bei Zeugen Jehovas: Mutmaßlicher Täter ist tot

Die Einsatzleitung ordert weitere Spezialkräfte zum Tatort, auch die Bundespolizei und Sondereinsatzkommandos aus Schleswig-Holstein unterstützen. Polizisten fahren zu weiteren Gemeinden der Zeugen Jehovas in Hamburg, sichern die Häuser. Dort bleibt die Lage ruhig. Am Ende werden fast 1000 Beamtinnen und Beamte im Einsatz sein.

Polizisten in Spezialausrüstung stehen neben dem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg.
Polizisten in Spezialausrüstung stehen neben dem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg. © Jonas Walzberg/dpa

Und der mutmaßliche Täter ist tot. In der ersten Etage soll er sich selbst erschossen haben. Die Polizisten feuerten in dem gesamten Einsatz keine Kugel ab. Sieben Menschen ermordet Philipp F., zwei Männer und vier Frauen, zwischen 33 und 62 Jahre alt. Unter den Opfern ist auch ein Kind, sieben Monate alt, noch nicht geboren. Es stirbt durch Schüsse im Bauch der Mutter, die selbst überlebt.

Weitere sechs Frauen und zwei Männer sind verletzt, zum Teil mit mehreren Schüssen. Darunter auch eine Frau aus Uganda und aus der Ukraine. Vier der Verletzten schwebten zuletzt noch in Lebensgefahr. „Wir machen uns immer noch große Sorgen um mehrere der Verletzten, die schwere Schusswunden erlitten haben und weiterhin in Lebensgefahr schweben“, sagte Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) dem „Hamburger Abendblatt“.

Ber der Frage nach dem Motiv ist für Innensenator Andy Grote (SPD) mittlerweile eine Tendenz erkennbar. „Im Moment deutet alles darauf hin, dass das Motiv in der Beziehung zwischen dieser Gemeinde der Zeugen Jehovas und dem Täter als ehemaligem Mitglied dieser Gemeinde begründet liegt", sagte Grote dem „Hamburger Abendblatt“ am Montag.

Amoklauf in Hamburg: Mutmaßlicher Täter soll nicht Drogenauffällig gewesen sein

Zu Philipp F. gibt es laut bayerischem Innenministerium keine Hinweise auf eine frühere Drogenauffälligkeit. Das teilte ein Sprecher des Ministeriums am Samstag auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit. Es gebe keinen entsprechenden Eintrag bezüglich Drogendelikten. Zuvor hatte es Berichte über einen möglichen Drogenmissbrauch von Philipp F. in der Vergangenheit gegeben. Diese Berichte haben sich damit nicht bestätigt.

Philipp F., 35 Jahre alt, wuchs im bayerischen Memmingen auf, studierte „Finance & Controlling“ in München, kam 2014 nach Hamburg. Und er war selbst Mitglied der Zeugen Jehovas, besuchte die Gemeinde in Hamburg, die er nun angriff. Vor etwa anderthalb Jahren aber kam der Bruch. Philipp F. verlässt die Gemeinde. Unklar ist, ob er freiwillig ging oder rausgeworfen wurde.

Mutmaßlicher Täter hatte Waffenerlaubnis

Brisant ist vor allem eines: Philipp F. besaß legal eine Waffe. Offenbar erhielt er nach einer Prüfung erst im Dezember 2022 eine Waffenerlaubnis für die Pistole P30, kurz darauf muss er sich die Waffe besorgt haben. Im Januar bekam die Hamburger Behörde einen anonymen Hinweis. Man solle die Waffenerlaubnis von F. überprüfen, es gebe Hinweise auf eine psychische Erkrankung. Philipp F. trage eine „besondere Wut auf religiöse Anhänger“ in sich, „besonders auf die Zeugen Jehovas“ und seinen „ehemaligen Arbeitgeber“. Philipp F. wolle sich nicht ärztlich behandeln lassen, schreibt der Hinweisgeber. So trägt es der Hamburger Polizeipräsident am Mittag nach der Tat vor.

Ein Polizist steht mit einer Waffe in dem Gebäude, in dem sich der Königreichssaal der Zeugen Jehovas befindet.
Ein Polizist steht mit einer Waffe in dem Gebäude, in dem sich der Königreichssaal der Zeugen Jehovas befindet. © Daniel Bockwoldt/dpa

Daraufhin hätten zwei Polizeibeamte in der Waffenbehörde den Fall überprüft, noch einmal beim Verfassungsschutz und Staatsschutz nach möglichen Delikten und Hinweisen nachgefragt. Zudem besuchten sie den Täter ohne Ankündigung zuhause in seiner Wohnung in Hamburg-Altona, am 7. Februar, einen Monat vor der Tat.

Den Beamten sei nichts aufgefallen, Philipp F. habe sich „kooperativ“ und „offen“ gezeigt, die Waffe sei samt Munition in einem Tresor verschlossen gewesen, so wie es das Gesetz vorsieht. So fasst es der Polizeipräsident zusammen. Nur eines sei aufgefallen: Eine Patrone habe offen auf dem Schrank gelegen. Die Beamten hätten F. abgemahnt, er habe sich entschuldigt. Für einen Entzug der Waffenerlaubnis hätten die Beamten keine ausreichenden Belege gefunden, heißt es bei der Polizei.

Philipp F. veröffentlichte Buch im Internet

Auch im Internet hätten die Beamten nach Hinweisen gesucht. Offenbar entdeckten sie nichts. Dabei gibt es seit Dezember auf Internetplattformen ein Buch von F. Der Titel: „The Truth About God, Jesus Christ and Satan: A New Reflected View of Epochal Dimensions“, auf Deutsch: Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und den Teufel, eine neue Reflektion von epochaler Bedeutung.

Herausgegeben auf eigene Faust, ein knapp 300 Seiten langes pseudo-philosophisches Traktat, das unsere Redaktion in Teilen analysiert hat. F. inszeniert sich darin visionär, schreibt von „Engeln“, dann wieder vom Zweiten Weltkrieg, dann über Gott, dann über Ehe und Migration. Vor allem interpretiert F. die Bibel nach seinem Gusto. Es bleibt ein wirres Werk, es wirkt nicht zwangsläufig fanatisiert.

Kirche der Zeugen Jehovas in Alsterdorf: Blick auf den Einsatzort in Hamburg.
Kirche der Zeugen Jehovas in Alsterdorf: Blick auf den Einsatzort in Hamburg. © Jonas Walzberg/dpa

Hätte es den Beamten der Waffenbehörde auffallen müssen? Hätte der Staat intervenieren und F. die Waffenerlaubnis entziehen müssen? Es sind Fragen, die sich nun aufdrängen. Für die Opfer und die Hinterbliebenen des mutmaßlichen Amoklaufs ist es zu spät.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte nach der Tat: „Wir sind fassungslos angesichts dieser Gewalt. Meine Gedanken sind in den schweren Stunden bei den Opfern und ihren Angehörigen. Wir trauern um diejenigen, die so brutal aus dem Leben gerissen wurden.“ Auch Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) reagierte bestürzt. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron drückte auf Twitter seine Betroffenheit aus. Er richte das Beileid Frankreichs an die Angehörigen der Opfer und „an alle unsere deutschen Freunde“ aus, schrieb Macron. „Unsere Gedanken sind bei ihnen.“

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