Brüssel/Berlin. Deutschland schaltet die letzten Akw ab. Doch viele EU-Länder setzen auf Atomkraft, bauen neue Meiler – und machen gemeinsam Druck.

Deutschlands Atomausstieg hielt Emmanuel Macron immer schon für eine verrückte Idee, doch jetzt lässt der französische Präsident alle Rücksicht auf die Nachbarn fahren. Kurz bevor hierzulande am 15. April die Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke den Atomausstieg besiegeln wird, macht Macron lautstark in der Gegenrichtung Druck.

Der Präsident ließ diese Woche die "Wiederbelebung der Atomkraft" als vorrangiges Vorhaben Frankreichs ankündigen: Mindestens 14 neue Kraftwerke könnten bis 2050 in Betrieb gehen. Noch im März soll das Parlament ein Gesetz zum beschleunigten Meiler-Bau beschließen. Mit seinem Atom-Kurs ist Macron nicht allein.

Eine Reihe von EU-Staaten setzt jetzt verstärkt auf die Nutzung von Kernenergie, neben Frankreich plant ein halbes Dutzend weiterer Unions-Länder den Neubau von Meilern – zur eigenen Energiesicherheit und um die Klimaschutzziele der EU zu erreichen.

Für die Bundesregierung kommen die Initiativen zur Unzeit. Sie bestärken Ausstiegs-Kritiker in ihren Zweifeln, ob die Abschaltung der letzten Kernkraftwerke ausgerechnet jetzt der richtige Weg ist. Rund 110 Akw in 13 EU-Staaten sind aktuell in Betrieb, sie liefern ein Viertel des Stroms in der Union. Während Deutschland aussteigt, steigen andere Europäer ein. Ein Überblick über die wichtigsten Vorhaben:

Polen:

Bislang verzichtet Polen auf Atomkraft, wegen seines Kohleausstiegs setzt es nun aber auf zwei Atomkraftwerke mit sechs Reaktorblöcken für den Betrieb im nächsten Jahrzehnt. Der Bau des ersten soll 2025 an der Ostsee bei Danzig beginnen und rund 20 Milliarden US-Dollar kosten. Verträge mit dem amerikanischen Konzern Westinghouse wurden am Rande des Besuchs von US-Präsident Joe Biden unterzeichnet. Projekte gibt es auch schon für zehn Mini-Reaktoren.

Schweden und Finnland:

Schweden bezieht 30 Prozent seines Stroms aus sechs Akw. Eigentlich wollte das Land längst ohne Nuklearenergie auskommen. Jetzt plant der rechtskonservative Premier Ulf Kristersson die Kehrtwende, will per Gesetz den Neubau von Akw vorbereiten. In Finnland werden zwei Atomkraftwerke gebaut, zusätzlich zu den bestehenden beiden.

Mittel- und Osteuropa:

Tschechien deckt mit zwei Akw ein Drittel seines Strombedarfs, nun soll ein Kraftwerk neugebaut und ein bestehendes in Temelin erweitert werden. In der Slowakei sind zwei neue Reaktoren im Bau. Ungarn, Bulgarien und Slowenien planen neue Meiler, Rumänien prüft den Bau von Mini-Akw.

Belgien/Niederlande:

Die Niederlande verlängern die Laufzeit des einzigen Akw in Borssele und planen zwei neue Reaktorblöcke. Belgien hat den für 2025 avisierten Atomausstieg verschoben, die beiden jüngsten Meiler sollen bis 2035 laufen.

Frankreich:

Die Atommacht betreibt mit 56 Anlagen die Hälfte aller Meiler in der EU, deckt damit 70 Prozent seines Strombedarfs. Nun soll die Laufzeit alter Reaktoren auf 60 Jahre verlängert werden, parallel zum Neubau von sechs Akw bis Mitte der 30er Jahre. Mindestens acht weitere Reaktor-Projekte werden geprüft. Zudem wirbt Macron für Mini-Reaktoranlagen. Allerdings: Über die Hälfte der französischen Akw stand voriges Jahr wegen Pannen oder Wartungsarbeiten vorübergehend still. Der Neubau eines vermeintlichen Vorzeige-Reaktors in Flamanville dauert schon 15 Jahre und wird zum Milliardengrab. Der Stromkonzern EDF hat 64 Milliarden Euro Schulden angehäuft, nun soll er komplett verstaatlicht werden.

Atomkraft: Der Bau neuer Meiler ist nicht ohne Risiko

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron führt eine neue Pro-Atom-Koalition von EU-Ländern an.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron führt eine neue Pro-Atom-Koalition von EU-Ländern an. © AFP | STEPHANE MAHE

Das Beispiel Frankreich zeigt: Die Kernkraft-Wende ist kein Selbstläufer. Atommeiler neu zu bauen ist teuer, dauert sehr lange und ist nicht ohne Risiko. Auch deshalb sinkt der Anteil der Atomenergie an der weltweiten Stromproduktion, letztes Jahr fiel er erstmals wieder unter zehn Prozent. Umkehren wird sich der Trend nicht mehr, sagt die Internationale Energieagentur IEA.

Die Welt hat zwar gewaltigen und wachsenden Strombedarf, doch wird der zunehmend durch den Ausbau erneuerbarer Energien gedeckt und derzeit durch einen stärkeren Einsatz fossiler Kraftwerke. Dennoch sieht die Energieagentur gute Chancen für ein "Comeback der Kernenergie" - als Brücke zu erneuerbaren Energien: Für den Klimaschutz sei der Bau neuer Akw in allen Ländern notwendig, die dazu bereit seien, sagt IEA-Direktor Fatih Birol.

Atom-Allianz macht Druck

Entsprechend selbstbewusst macht in der EU das Atom-Lager politisch Druck: Diese Woche versammelten sich in Stockholm am Rande eines EU-Treffens die Energieminister von elf Ländern zu einer "Pro-Atom-Koalition" – dabei waren Frankreich, Niederlande, Polen, Finnland, Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Slowenien, Slowakei. Schweden und Italien fehlten, zählen aber zur Nuklear-Allianz. Angeführt von Frankreich, versprechen sich die Länder mehr Kooperation, gemeinsame Atomprojekte und eine Zusammenarbeit bei Forschung und Sicherheit.

Deutschland hat dagegen mit seinem harten Ausstiegskurs nur wenige entschlossene Verbündete: Österreich, Luxemburg, Spanien. Lange wollte Berlin das wachsende Interesse an Kernenergie in Europa als Gerede der Atomlobby abtun, jetzt zeigt sich die Regierung geschmeidig: Natürlich akzeptiere man, dass ein Teil der Mitgliedstaaten Kernenergie befürworte, meinte Wirtschafts-Staatssekretär Sven Giegold (Grüne) in Stockholm. Er markierte aber gleich die letzte Abwehrfront: Kein EU-Geld für Atomenergie. "Wir sind nicht bereit", sagte Giegold, "den Bau neuer Kernkraftwerke anderswo in Europa zu finanzieren."