Berlin. Immer mehr Stellen bleiben in vielen europäischen Ländern unbesetzt. Doch Not macht erfinderisch. Was Deutschland daraus lernen kann.

Wer einen Handwerker braucht, muss lange warten, und das Lieblingsrestaurant öffnet nur noch vier Tage in der Woche – der Fachkräftemangel ist überall spürbar und lähmt die Wirtschaft. Doch nicht nur Deutschland ist betroffen. Ein Blick nach Europa zeigt: Vielen Nachbarländern geht es nicht besser. Auch sie suchen Auswege aus der Krise. Ein Überblick:

Frankreich arbeitet an der „Sonder-Greencard“

Trotz einer Arbeitslosenquote von 7,4 Prozent ist der Fachkräftemangel in Frankreich noch größer als in Deutschland. Der Hauptgrund hierfür ist die weit auseinanderklaffende Schere zwischen den Stellenangeboten und den Qualifikationen der Jobsuchenden. Fast alle Bereiche sind vom Fachkräftemangel betroffen sind, besonders aber das Gesundheits- und Transportwesen und die Schulen. In zahlreichen Krankenhäusern mussten Betten oder Notfallstationen geschlossen werden, in zahlreichen Gemeinden, vorneweg Paris, wurde der Takt, in dem die Busse fahren, vergrößert.

In den Schulen wird nach Lehrpersonal so verzweifelt gesucht, dass die Rektorate Bewerber auch dann einstellen, wenn ihnen pädagogische oder fachliche Qualifikationen weitestgehend fehlen. Händeringend wird auch im Gaststätten- oder Hotelgewerbe nach Personal gesucht. Bis zu 175.000 Stellen sollen derzeit im Gastgewerbe unbesetzt sein.

Die Regierung setzt verstärkt auf Fort- und Ausbildungsprogramme und hat Dauer sowie Höhe des Arbeitslosengeldes gekürzt. Zudem soll nun ausländischen Fachkräften die Immigration erleichtert werden. Der Innenminister will eine Art „Sonder-Greencard“ für Immigranten schaffen, die besonders gesuchte Berufe ausüben.

Auch im Nahverkehr macht sich der Mangel bemerkbar. In zahlreichen französischen Gemeinden, vorneweg Paris, wurde der Takt, in dem die Busse fahren, vergrößert.
Auch im Nahverkehr macht sich der Mangel bemerkbar. In zahlreichen französischen Gemeinden, vorneweg Paris, wurde der Takt, in dem die Busse fahren, vergrößert. © AFP | BERTRAND GUAY

Polen: Geflüchtete aus der Ukraine helfen bei Pflege und Kinderbetreuung

In Polen herrscht heute fast Vollbeschäftigung. Vier von zehn Betrieben geben an, ihr Geschäft leide stark unter dem Mangel an geeignetem Personal. Hintergrund ist, dass Polen nach dem EU-Beitritt mehr als zwei Millionen Menschen durch Arbeitsmigration an die Staaten Westeuropas verloren hat.

Das hat sich vor allem in Zukunftsbranchen wie der IT ausgewirkt. 2020 legte die Regierung in Warschau deshalb das Programm „Poland, Business Harbour“ auf, um Spezialisten aus Nicht-EU-Ländern anzuwerben – mit begrenztem Erfolg. Personalmangel herrscht auch im Baugewerbe und bei der medizinischen Versorgung. Deutschlands östlicher Nachbar hat die geringste Arztdichte in der EU. Auf 1000 Einwohner kommen dort 2,4 Ärzte. Beim Pflegepersonal war die Lage noch angespannter, was sich aktuell aber ändert. Grund ist der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Von dort waren in den vergangenen Jahren bis zu zwei Millionen Menschen zugewandert.

Großteils handelte es sich um Männer, die auf dem Bau und im Handwerk Jobs fanden. Viele sind nun zurückgekehrt, um im Krieg zu helfen. Auf der anderen Seite haben rund 1,5 Millionen Geflüchtete in Polen Schutz gefunden. Die meisten von ihnen sind Frauen, die oft in der Pflege, der Kinderbetreuung oder der Buchhaltung arbeiten.

Der Fachkräftemangel ist auch in den medizinischen Berufen groß. Italien will deshalb jetzt den Numerus clausus für ein Medizinstudium abschaffen.
Der Fachkräftemangel ist auch in den medizinischen Berufen groß. Italien will deshalb jetzt den Numerus clausus für ein Medizinstudium abschaffen. © picture alliance / PHOTOPQR/LE PROGRES/MAXPPP | Rémy PERRIN

Italien: Abschaffung des Numerus clausus gegen den Ärztemangel

Bis 2027 könnte es Probleme geben, 1,5 Millionen Jobs zu besetzen, meint der italienische Verband der Berufsberater. Allein 2022 fehlten in Italien 180.000 Mitarbeiter, vor allem in der Gas­tronomie, im Tourismus und in der Landwirtschaft. Zu den Mangelberufen gehören aber auch Pharmazeuten, Biologen und Spezialisten in den Biowissenschaften sowie Ärzte.

Zwischen 2018 und 2021 schrumpfte die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) erheblich, mit einem Rückgang von 636.000 Personen, davon 262.000 unter 35 Jahren. Die Zahl derjenigen, die nicht auf Arbeitssuche sind, ist um 1,5 Prozent auf 194.000 gestiegen.

Die Politik ist besorgt. Diskutiert wird über die Einführung eines gesetzlich festgelegten Mindestlohns von neun Euro netto pro Stunde, wogegen sich die Wirtschaft wehrt. Zudem will die Regierung von Giorgia Meloni will legale Migrationswege fördern. 2023 sollen 82.000 Einwanderungsgenehmigungen für Nicht-EU-Bürger erteilt werden. Um Personalmangel im öffentlichen Gesundheitssystem zu beheben, will die Regierung den Numerus clausus abschaffen, der derzeit für den Zugang zu medizinischen Fakultäten gilt.

Spanien: Anhebung der Mindestlöhne geplant

Das Land hat mit knapp 13 Prozent die höchste Erwerbslosenquote der EU. Entsprechend ist die Zahl der unbesetzten Stellen vergleichsweise niedrig. Trotzdem erwarten die Experten, dass der Fachkräftemangel auch in Spanien wachsen wird. So warnt bereits die Bauindustrie, dass ihr der Nachwuchs auszugehen droht. Ähnliche Probleme haben jetzt schon das Hotel- und Gaststättengewerbe, die Landwirtschaft, das Handwerk, die Transportbranche und der Pflegesektor.

Laut Statistik können derzeit mehr als 140.000 Stellen nicht besetzt werden. Bei vielen Bewerbern fehlt die berufliche Qualifikation. Und Spaniens Jugend studiert lieber, als eine Lehre zu machen. Größtes Hindernis sind aber nach Gewerkschaftsangaben die schlechten Arbeitsbedingungen, die viele Talente zum Auswandern bewegen: Berufseinsteiger können in Spanien kaum mehr als den Mindestlohn von 1000 Euro erwarten – oft nur mit Zeitverträgen.

Die Regierung versucht nun, mit einer schrittweisen Anhebung der Mindestlöhne und einer verstärkten Anwerbung ausländischer Fachkräfte gegenzusteuern. Zudem plant Ma­drid, illegalen Immigranten, die sich schon im Land befinden und eine Ausbildung in einem Mangelberuf mitbringen, das Aufenthaltsrecht zu verleihen.

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Österreich: Es mangelt an Fachkräften und an Ideen

Die Liste der Mangelberufe in Österreich, die die Regierung in Wien aufgestellt hat, ist lang: Sie reicht von „Ärzten“ über „Holzmaschinenbearbeiter“ bis „Zimmerer“. Doch auch auf einer Regierungsklausur vor wenigen Tagen konnten sich die Kanzlerpartei ÖVP und die Grünen nicht einigen, wie Lösungen aussehen könnten. „Migration“ ist ein Reizwort für die ÖVP. Und so lautet die österreichische Lösung: „Arbeitsgruppe“.

Ergriffene Maßnahmen zielen darauf ab, Zeit zu gewinnen: Um Fachkräfte länger im Arbeitsleben zu halten, wird die Regelung zur Altersteilzeit reformiert. Bisher lautete die Formel: Entweder Teilzeit über den vollen Zeitraum oder die erste Hälfte Vollzeit, die zweite freigestellt. Letztere Möglichkeit wird nun schrittweise abgeschafft. 60.000 bis 70.000 Fachkräfte fehlen Österreich im Arbeitsmarkt, so das sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Institut KMU Forschung Austria. Betroffen sind vor allem Gewerbe, Handwerk sowie der Dienstleistungssektor – vor allem Gastronomie und Hotellerie. Lösungen sind nicht in Sicht. Auch der Versuch, Mütter schneller wieder an den Arbeitsplatz zu holen, scheitert: Es gibt keinen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung.

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Großbritannien: Migration soll nicht die Lösung sein

Die Gesundheitskrise, die seit Wochen Schlagzeilen macht in Großbritannien, ist nicht zuletzt eine Krise des Fachkräftemangels. Laut jüngsten Statistiken fehlen im staatlichen Gesundheitsdienst NHS über 130.000 Mitarbeiter, in der Pflege sind fast 12 Prozent der Stellen frei. Auch in der Gastronomie und im Baugewerbe melden Branchenverbände, dass sie zu wenige Mitarbeiter finden. In der Corona-Pandemie hat der britische Arbeitsmarkt Tausende Fachkräfte verloren, hinzu kommt der Brexit: Die verschärften Einwanderungsregeln, die der EU-Austritt nach sich gezogen hat, halten viele ausgebildete Arbeiter aus der EU davon ab, nach Großbritannien zu ziehen. Seit Monaten fordern führende Unternehmer, dass die Visaregeln aufgeweicht werden sollten, um die klaffenden Lücken füllen zu können.

Der einflussreiche Indus­trieverband CBI fordert zeitlich begrenzte Visa in jenen Sektoren, in denen Mitarbeiter fehlen. Premier Rishi Sunak sagt zwar, dass er „die besten und die gescheitesten“ Fachkräfte aus der ganzen Welt anlocken will. Aber seine Priorität sei die Beschränkung der Migration.

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