Berlin. IG-Metall-Chef Jörg Hofmann warnt vor einer “sozialen Schieflage“. Er fordert, bei der Rente belastende Tätigkeiten zu berücksichtigen.

In Deutschland fehlen allenthalben Fachkräfte. Der Erste Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, schlägt im Interview neue Wege vor, um den Mangel zu beheben. Und sagt, warum Deutschland kein richtiges Einwanderungsland ist.

Herr Hofmann, was sollte Vorrang haben: die Ausbildung einheimischer oder die Zuwanderung ausländischer Kräfte?

Jörg Hofmann: Wir brauchen dreierlei: Wir müssen junge Menschen im dualen System oder an den Hochschulen ausbilden. Wir müssen Arbeitnehmer weiter qualifizieren, damit die Transformation gelingt und sie eine sichere Perspektive haben. Und wir brauchen Zuwanderung aus dem Ausland. Ohne wird es nicht gehen. Die demographische Kurve zeigt klar nach unten. Im Übrigen sollten wir die Debatte nicht auf Fachkräfte beschränken.

Sondern?

Hofmann: Wir haben in Deutschland inzwischen einen riesigen Arbeitskräftemangel – auch bei Tätigkeiten, die nicht unbedingt eine spezielle Ausbildung erfordern. Denken Sie an Gastronomie, Logistik, einfache Dienstleistungen oder Helfertätigkeiten in der Industrie.

Wie viele Arbeitskräfte aus dem Ausland werden wir in den nächsten Jahren brauchen?

Hofmann: Fachleute gehen davon aus, dass wir bis 2030 pro Jahr eine Nettozuwanderung von 400.000 Arbeitnehmern brauchen. Das erscheint mir plausibel. Vermutlich ist das sogar noch eine Schätzung am unteren Rand.

Ist Deutschland vorbereitet auf so viel Zuwanderung?

Hofmann: Nur bedingt. Schauen Sie sich an, was auf den Wohnungsmärkten los ist. Natürlich brauchen die Zugewanderten auch Wohnraum. Aber der ist jetzt schon knapp. Das setzt sich fort bei der Kinderbetreuung oder schulischen Angeboten. Wir sind auch von der Mentalität her noch lange kein Einwanderungsland, obwohl wir es dringend sein müssten. Da geht es auch um Dinge wie die rasche Erteilung eines Visums, die Anerkennung von Abschlüssen oder die Voraussetzungen für einen Familiennachzug.

Sollten wir verstärkt um Arbeitskräfte aus anderen EU-Ländern werben?

Hofmann: Im Prinzip ja. In Europa herrscht Arbeitnehmer-Freizügigkeit. Aber der Umstand, dass wir unseren Fachkräftebedarf nicht mit Menschen aus anderen EU-Staaten decken können, unterstreicht, dass wir noch kein attraktives Zuwanderungsland sind. Wir hatten zuletzt einen sinkenden Zuwanderungssaldo mit der übrigen EU.

Jörg Hofmann ist seit 2015 Chef der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall), der mit 2,26 Millionen Mitgliedern größten Gewerkschaft in Deutschland.
Jörg Hofmann ist seit 2015 Chef der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall), der mit 2,26 Millionen Mitgliedern größten Gewerkschaft in Deutschland. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Woher sollen die Leute kommen, die wir brauchen?

Hofmann: Aus Europa jenseits der EU und allen anderen Winkeln der Welt.

Unabhängig von der kulturellen und religiösen Prägung?

Hofmann: Die religiöse Prägung ist längst nicht mehr entscheidend. Und die kulturelle Vielfalt hat unser Land durchaus auch bereichert.

Im Osten ist die AfD vielerorts die stärkste Kraft. Können Sie einem afrikanischen IT-Spezialisten oder einer indischen Altenpflegerin guten Gewissens empfehlen, nach Deutschland zu gehen?

Hofmann: Ja. Ich denke, dass die große Mehrheit der deutschen Gesellschaft sehr weltoffen ist. Natürlich gibt es Fremdenfeindlichkeit, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Der entscheidende Ort der Integration ist der Arbeitsplatz. Dort werden Fremde zu Kollegen. Das ist die Lehre der ersten Immigrationswellen der 1960er und 1970er Jahre.

Sollten Zuwanderer, die zu uns kommen, ihre Familien mitbringen können?

Hofmann: Ja. Ich denke, dass das sehr früh möglich sein muss, sofern die Beschäftigung auf Dauer angelegt ist. Anders wird es gar nicht gehen. Denn sonst kommt die betroffene Person im Zweifel gar nicht erst nach Deutschland.

Ist es notwendig, den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft zu erleichtern, wie die Ampel das plant?

Hofmann: Mein Gefühl ist, dass andere Länder beim Staatsbürgerschaftsrecht weiter sind und ihnen das einen Vorteil im Wettbewerb um Arbeitskräfte verschafft.

Ein späteres Renteneintrittsalter, etwa mit 69 oder 70 Jahren, könnte dem Fachkräftemangel die Spitze nehmen. Warum sperren sich die Gewerkschaften dagegen?

Hofmann: Wir haben nichts gegen flexiblere Übergänge aus dem Erwerbsleben in die Rente. Aber wir haben etwas dagegen, wenn Menschen Rentenabschläge hinnehmen müssen nach 35 oder gar 45 Versicherungsjahren. Das ist das, worauf eine Erhöhung des gesetzlichen Eintrittsalters hinausläuft. Der andere Punkt ist: In der Praxis gehen sehr viele Arbeitnehmer lange vor dem gesetzlichen Eintrittsalter in Rente, das inzwischen fast bei 66 Jahren liegt. Sie sind krank oder nehmen Abschläge hin, weil sie ausgepowert sind.

Monika Schnitzer, die Chefin der Wirtschaftsweisen, verlangt die Abschaffung der abschlagsfreien Rente mit 63 für besonders langjährige Versicherte. Wäre das mit Ihnen zu machen?

Hofmann: Die Frage ist, wie sehr lange Erwerbsbiografien und oft auch sehr belastende Tätigkeiten bei der Rente berücksichtigt werden können. Ich meine, wer mit 45 Jahren Erwerbstätigkeit in Rente geht, hat mit 18 Jahren begonnen in die Kasse einzuzahlen. Andere haben sich in diesem Alter noch Jahre sich an öffentlich finanzierten Hochschulen bei Mitversicherung bei den Eltern auf ihren Beruf vorbereitet. Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit, dass nach 45 Versicherungsjahren keine Rentenkürzung stattfindet. Wer Alternativen zur Rente mit 63 fordert, muss sie auch klar benennen. Streichen führt zu einer sozialen Schieflage.

Jörg Hofmann arbeitet seit 1987 als Gewerkschafter. Der Vater einer Tochter ist Mitglied der SPD sowie Aufsichtsrat von Bosch und VW.
Jörg Hofmann arbeitet seit 1987 als Gewerkschafter. Der Vater einer Tochter ist Mitglied der SPD sowie Aufsichtsrat von Bosch und VW. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Arbeitsminister Hubertus Heil will neue Möglichkeiten für Weiterbildung schaffen. Nach dem Vorbild Österreichs soll es bezahlte Bildungszeit geben. Unterstützen Sie das?

Hofmann: In unseren Metall-Tarifverträgen haben wir einen Anspruch des Arbeitnehmers auf Bildungsteilzeit vereinbart – als Zeitanspruch. Aber das muss man sich eben auch leisten können, und das ist bislang das Problem. Deshalb begrüßen wir im Grundsatz das Vorhaben des Arbeitsministers. Die Weiterbildung und die Chance auf eine zweite Berufsausbildung ist angesichts der Transformation ein extrem wichtiges Thema für die Beschäftigten und die Betriebe, damit genügend Fachkräfte für Digitalisierung, Mobilitäts- und Energiewende bereitstehen. Um eine Formulierung des Kanzlers aufzugreifen: Die Weiterbildung ist der zentrale Wumms für den Wandel.

Gehen Heils Pläne weit genug?

Hofmann: Er sollte noch mutiger sein. Geplant ist, dass Beschäftigte maximal ein Jahr eine Auszeit für Aus- oder Weiterbildung nehmen können – sofern der Chef zustimmt. Das reicht nicht, viele Spezialisten von heute werden im Grunde einen neuen Beruf lernen müssen. Die Obergrenze für die Weiterbildungs-Auszeit sollte zwei Jahre betragen, eher noch mehr. Das gilt auch für das gleichfalls angefachte Qualifizierungsgeld. Beide Instrumente müssen auch einen Berufswechsel ohne Qualifikationsverlust ermöglichen.

Ist es in Ordnung, dass der Chef der Weiterbildung zustimmen muss?

Hofmann: Wir brauchen auch einen Rechtsanspruch des Arbeitnehmers auf Bildungszeit. Das lässt sich mit entsprechenden Antragsfristen in den Betrieben auch organisieren. Dafür haben wir Tarifverträge, dafür soll es das neue Qualifizierungsgeld geben, das auf konkrete Vereinbarungen der Betriebs- und Tarifvertragsparteien baut. Arbeitgeber sollten verpflichtet werden, Personallücken, die durch staatlich geförderte Weiterbildung entstehen, mit Nachwuchskräften zu füllen. Es reicht auch nicht, dass Arbeitnehmer in Weiterbildung von der Bundesagentur nur Unterstützung in Höhe des Arbeitslosengeldes bekommen sollen. Das muss aufgestockt werden.

Wer soll das bezahlen?

Hofmann: Klar ist, dass wir die Kosten nicht allein der Bundesagentur für Arbeit aufbürden können. Wir haben jetzt 170 Milliarden Euro im Klima- und Transformationsfonds für den klimaneutralen Umbau der Volkswirtschaft. Es kann nicht sein, dass dieser Fonds die Transformation von Geschäftsmodellen und Prozessen fördert, die Träger und Treiber der Transformation, die Beschäftigten, aber außen vor bleiben. Aus dem Fonds sollten bis 2030 mindestens 20 Milliarden Euro in die Qualifizierung der Arbeitnehmer fließen. Denn fehlende Fachkräfte sind die größte Bremse eines schnellen Wandels.