Toretzk. Das Leben in Toretzk im Donbass dreht sich um den Bergbau – daran ändern auch die Bombeneinschläge nichts. Die Region ist umkämpft.

Im Hof der Kohlemine überwacht ein Mann in einer blauen Jacke die Wasserverteilung. Sie wird für die Frauen der Grubenarbeiter organisiert. Seit fast drei Wochen haben manche Viertel von Toretzk, einer Großstadt im Donbass mit 50.000 Einwohnern, kein Trinkwasser mehr.

Die nicht einmal vier Kilometer von der Kampflinie zwischen den prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee gelegene Stadt leidet jeden Tag unter den Bombardierungen. Trotzdem steigen immer noch 1200 männliche und weibliche Minenarbeiter 950 Meter tief ins Innere der Erde, um Kohle abzubauen.

Der Mann mit der blauen Jacke heißt Viktor Dawidowitsch. Der 72-jährige weißhaarige Mann mit mehreren Goldzähnen ist der Vorsteher dieser historischen Mine, die durch den Krieg in Bedrängnis geraten ist. Seine ganze Leidenschaft gilt dem Wohl und der Sicherheit seiner Angestellten. „Ein Bergarbeiter braucht 100 Liter Wasser um sich zu waschen, wenn er aus der Mine kommt. Und dann muss ja auch die Familie etwas bekommen“, erklärt er.

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Das war allerdings nicht immer so. Lange Zeit war die Stadt eines der Aushängeschilder des Bergbaus in der Region. „Diese Mine wurde mit dem Orden ‚Rote Fahne der Arbeit ausgezeichnet‘, einer der höchsten zivilen Ehrungen der Sowjetunion“, lässt er beiläufig verlauten. Er geht mit schnellen Schritten in Richtung der großen Empfangshalle des Gebäudes. Von hinten flüstert ihm eine Sekretärin zu, dass mehrere Einberufungsbescheide für Kumpel gekommen seien. Der Krieg ist überall, niemand kann sich ihm entziehen.

In der Mine arbeiten 1200 Menschen

Früher war die Stadt, bis hin zu ihrem Namen, Aushängeschild des Sowjet-Regimes. Bevor sie 2016 in Toretzk umbenannt wurde, hieß sie Dserschynsk – nach Felix Dserschinski, dem Gründer des NKWD. Die berüchtigte politische Polizei der UdSSR war der Vorläufer des KGB.

Die Mine ist alt und liegt inmitten der Bombenangriffe verloren wie eine Zeitkapsel. Die Gebäude bleiben einer früher ruhmreichen, aber lange zurückliegenden Vergangenheit verhaftet. Denn alles hier ist verlassen und dem Verfall preisgegeben. Der 1913 errichtete Bahnhof ist zur Hälfte eingestürzt und scheint auf fiktive Züge zu warten. „Die Mine wurde vor 167 Jahren eröffnet und war seitdem immer in Betrieb“, erzählt der Vorsteher nach einer Pause weiter. „Wir können sowieso nicht aufhören“, betont er. „Würde die Mine stillgelegt, würde das ganze Grundwasser, das täglich abgepumpt wird, die Böden überschwemmen und sie vergiften.“

Also läuft die Mine weiter. Die 1200 Kumpel, echte Knechte des Erdinneren, fahren jeden Tag ein, um mit einem flauen Gefühl im Magen Kohle zu fördern.

Minenarbeiter von Toretzk: „Das sind echte Helden!“

Eines der Hauptgebäude des Bergwerks, in dem Kohle gelagert wird.
Eines der Hauptgebäude des Bergwerks, in dem Kohle gelagert wird. © François Thomas | François Thomas

„Das Gestein ist sehr schwierig abzubauen, es braucht sehr viel Handarbeit. Aber es gibt nichts Besseres, um hochwertigen Stahl herzustellen. Zum Beispiel den, aus dem im Zweiten Weltkrieg die T34-Panzer gebaut wurden“, erzählt der Vorsteher mit einem Hauch von Nostalgie, als er an eine andere Epoche erinnert.

„Bei uns gibt es auch Frauen, die in die Mine einfahren wie die Männer. Sie sind zu dreizehnt und für die Qualitätskontrolle der Kohle eingeteilt“, fährt Viktor Dawidowitsch fort. Mit dem Krieg ist die Sicherheit der Grubenarbeiter zu seinem Element geworden. „Ich habe ein System mit Generatoren installieren lassen, die sie nach oben bringen für den Fall, dass sie da unten eingeschlossen werden.“

Seit dem Beginn der russischen Offensive wurde die Mine zweimal getroffen. „Ein Geschoss ist mitten auf dem Hof eingeschlagen, das andere hat ein Gebäude getroffen und einen Brand ausgelöst“, erzählt er und schüttelt den Kopf. „Kennen Sie viele Männer und Frauen, die unter Tage gehen würden, während um sie herum Raketen einschlagen? Das sind echte Helden!“ Und weiter: „Sie haben Vertrauen in uns, und wir haben Vertrauen in sie. Sie sind die besten der Welt“, skandiert er, wie um sich zu überzeugen.

In der gigantischen Empfangshalle, die von riesigen Lüstern erleuchtet wird, ziert die Geschichte der Mine die Wände, aufgeladen mit der Symbolik der Sowjetzeit. „Die Mitglieder des Regionalrates wollten uns dazu zwingen, das alles zu entfernen“, sagt er und zeigt auf Hämmer, Sicheln und rote Sterne. „Aber das ist unsere Geschichte. Das symbolisiert unsere Arbeit, das, was wir einmal waren“, unterstreicht er mit Stolz im Blick.

In der Region lebt der Mythos vom Minenarbeiter

Auf die Frage, ob er selbst Grubenarbeiter gewesen ist, bricht er in schallendes Gelächter aus. „Was denken Sie denn, wie ich Vorsteher geworden bin? Mein Vater und meine Mutter waren beide Minenarbeiter. Meine Mutter hat sogar den Stalin-Orden bekommen.“ Dann wird er ernst. „Mein Vater ist mit 50 an Staublunge gestorben. Ich war 19. Das war für mich der Moment, einzufahren und ihn zu ersetzen.“ Er wurde selbst dreimal geehrt und hat die höchste Auszeichnung erhalten, die eines Grubenarbeiters der Ukraine.

Der Mythos vom Minenarbeiter ist eines der kulturellen Fundamente der Region, wie die 120 Kilometer von der Front entfernt gelegene Stadt Stachanow bezeugt. Der heldenhafte Kumpel Alexei Stachanow vollbringt 1935 die Meisterleistung, innerhalb von sechs Stunden – statt der im Plan vorgegebenen sieben – 102 Tonnen Kohle aus der Grube zu holen. Er wurde zu einem Vorbild des Donbass und der Sowjetunion. Sein Name ist als Bezeichnung für einen unerbittlichen Arbeiter in die Alltagssprache eingegangen.

Gegenüber der Mine, weiter oben, ragt das in sowjetischer Zeit erbaute Gebäude des Regionalrates auf, der die verschiedenen Minen der Region verwaltet. Davor thront eine Statue zu Ehren der Opfer, die die Minenarbeiter während des Großen Vaterländischen Krieges erbrachten. Auch dort scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Oranger Teppich, lackiertes Holz und eine große Sammlung an Auszeichnungen bilden das Dekor für den Regionalverantwortlichen. Der hinter seinem Büro massig wirkende Mann trägt ein rosa Hemd, hat einen ergrauenden Bart, nennt nur seinen Vornamen und verbietet Fotos. Lesen Sie auch: Ukrainischer Parlamentspräsident fordert: „Die Waffen zügig liefern

Folgen des Kriegs: Seit drei Monaten kein Trinkwasser

„Wolodymyr, wie der Präsident.“ Er redet nur das Nötigste und startet mit einer Vorwarnung: „Wir reden nicht über Politik. Keine Frage zum Krieg. Nur ein paar Zahlen. Die Mine arbeitet bei 30 Prozent ihrer Kapazität, die Produktion ist drastisch eingebrochen. Seit acht Jahren arbeiten wir jetzt nur vier Kilometer von der Front entfernt. Seit drei Monaten gibt es kein Trinkwasser mehr und seit vier Tagen kommt kein Gas.“ Dann schweigt der Mann und erhebt einen Zeigefinger: „Hören Sie das?“ In der Ferne explodieren zwei Artilleriegeschosse.

Er versucht zu lächeln und redet weiter: „Manche Teile der Stadt haben keinen Strom mehr, die Menschen sind gezwungen, draußen Feuer zu machen. Darauf beschränkt sich jetzt unser Leben.“ Von den 50.000 Einwohnern vor dem Krieg sind 10.000 geblieben. Wolodymyr beendet das Gespräch mit einem Schmunzeln: „Wenn es in Ihrem Land Arbeitslose gibt, sagen Sie ihnen, dass sie in unsere Minen kommen sollen. Hier gibt es Arbeit, aber nicht genug Leute.“

Dieser Text erschien zuerst auf www.waz.de

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt