Berlin/Brüssel. Gefallene Kommandeure, gefeuerte Generäle, Gerüchte um Minister: Kann sich Putin auf die Armee verlassen? Oder droht ein Militärputsch?

  • Wie groß ist der Rückhalt für Wladimir Putin und seinen Krieg in der Ukraine?
  • Immer mehr Generäle oder Kommandeure der russischen Armee werden gefeuert oder kommen ums Leben
  • Die Alarmzeichen nehmen für Putin zu. Droht dem russischen Präsidenten ein Putsch?

Schon wieder ist ein russischer Kommandeur im Angriffskrieg gegen die Ukraine gefallen, es ist bereits der achte in einer unheimlichen Serie: General Wladimir Frolow war stellvertretender Befehlshaber der achten Armee, die am Kampf um Mariupol beteiligt war; ums Leben soll er in der Donbass-Region gekommen sein. Andere Top-Militärs sind im Einsatz von ukrainischen Scharfschützen getötet worden, wie Andrej Suchowetzki, Vizekommandeur der 41. kombinierten Waffenarmee, oder kamen im Gefecht ums Leben, wie der Generalmajor Oleg Mitjaew, der unweit von Mariupol fiel.

Für die russische Armee ist es ein Alarmzeichen. Die Zahl der getöteten Generäle ist ungewöhnlich hoch. Offenbar sehen sich die Militärführer gezwungen, selbst ganz vorn an die gefährliche Frontlinie zu gehen, um Befehle in einer schlecht motivierten Truppe durchzusetzen.

Krise in Putins Armee: Todesserie unter russischen Generälen

Die Moral der Soldaten ist nach westlichen Geheimdiensterkenntnissen schlecht, immer öfter soll es zu Befehlsverweigerungen kommen, weshalb jetzt auch Familien von Soldaten unter Druck gesetzt werden. Neben der mangelnden Disziplin gibt es aber wohl auch Probleme mit der Kommunikationstechnik, die die Top-Militärs an die Front zwingen.

Die Todesserie unter den russischen Generälen ist deshalb nur ein Symptom für eine größere Krise in der russischen Armee. Präsident Wladimir Putin verliert mit seinem Angriffskrieg nicht allein ungewöhnlich viele Kommandeure an der Front. Er opfert in einer Säuberungswelle auch Top-Militärs in Moskau. Putin fühle sich von der Armee getäuscht und falsch informiert über die Lage in der Ukraine, sagen Vertreter der US-Regierung unter Berufung auf Geheimdienstinformationen aus dem engsten Umfeld. Nach den offenkundigen Fehlern der Armee hat Putin demonstrativ durchgegriffen. Den Vizechef der Nationalgarde, Roman Gawrilow, ließ er verhaften, eine Reihe weiterer Generäle soll er entlassen haben. Von etwa 20 geschassten Top-Militärs berichtet unter anderem der ukrainische Geheimdienst.

Ukraine: General in Haft, weil er keine prorussische Opposition organisieren konnte

Die ungewöhnliche Reorganisation der militärischen Kommandokette mitten im Krieg, an deren Spitze nun General Alexander Dwornikow steht, belegt die tiefen Erschütterungen. Ein General des Geheimdienstes FSB, dessen Abteilung eine prorussische Bewegung in der Ukraine organisieren sollte und dabei komplett versagte, sitzt im Gefängnis, ein weiterer FSB-General steht unter Hausarrest; angeblich wurden über 150 Geheimagenten gefeuert.

Rätsel gibt weiter Verteidigungsminister Sergej Schoigu auf, der bislang als enger Vertrauter des Kremlherrschers galt. Ihr Verhältnis hat angesichts der strategischen Fehler und hohen russischen Verluste offensichtlich gelitten: Der russische Militäranalyst Andrej Soldatov berichtet, Putin habe Schoigu für die militärischen Probleme verantwortlich gemacht, ähnliche Erkenntnisse hat der US-Geheimdienst. Schoigu verschwand wochenlang von der Bildfläche, auf Nachfragen erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow, der Minister habe eben „viel zu tun“.

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Gerüchte um Shoigu: Herzinfarkt nach Giftanschlag?

Dann veröffentlichte der Kreml Videoaufnahmen von Schoigu-Auftritten, deren Aktualität fragwürdig war. Am Donnerstag zeigte das russische Staatsfernsehen allerdings Aufnahmen eines offenbar aktuellen Treffens Schoigus mit Putin, in dem der Minister sich zur Lage in Mariupol äußert.

Kann das die Gerüchte stoppen? Präsident Wladimir Putin (links) bei seinem auch im Fernsehen gezeigten Gespräch mit Verteidigungsminister Sergei Shoigu im Kreml.
Kann das die Gerüchte stoppen? Präsident Wladimir Putin (links) bei seinem auch im Fernsehen gezeigten Gespräch mit Verteidigungsminister Sergei Shoigu im Kreml. © AFP | YURI KADOBNOV

Schoigu ist also wieder im Einsatz. Aber was war passiert? Der russische Ex-Oligarch Leonid Nevlin behauptet unter Berufung auf Moskauer Quellen, dass der Minister im März einen Herzinfarkt erlitten habe – er sei die Folge einer Vergiftung durch den Kreml.

Es wäre nicht der erste Giftanschlag, den die Moskauer Führung auf dem Gewissen hätte, doch belegt ist das bisher nicht. Nevlin war einst Personaldirektor und Großaktionär der Ölfirma Yukos, fiel dann aber zusammen mit Yukos-Chef Michail Chodorkowski bei Putin in Ungnade und flüchtete nach Israel. Was genau im Kreml geschieht, bleibt unklar.

Das Verschwinden oder Wiederauftauchen von Führungsleuten könne auch ein Ablenkungsmanöver sein, von außen seien die Vorgänge schwer zu analysieren, sagt der Russlandexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Stefan Meister. Putin stütze sich ohnehin nur auf eine sehr kleine Zahl von Beratern, die wichtigen Entscheidungen treffe er selbst. In die Vorbereitungen des Ukraine-Krieges waren auch führende Militärs nicht eingeweiht oder sie hatten Bedenken. Die Frage ist daher, wie groß der Unmut über den Krieg in Putins Generalität ist.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Droht Putin jetzt ein Putsch des Militärs?

Muss der Kremlherrscher fürchten, dass die Armeeführung rebelliert? Der frühere US-General David Petraeus spricht den Verdacht jetzt offen aus: Ja, er könne sich einen Putsch des Militärs zur Beendigung des Krieges vorstellen, sagt Petraeus. Allerdings rechne er nicht im Moment damit.

Andere Experten wie der Militärwissenschaftler Matthias Keupp vermuten, die russische Armee sei durch die Misserfolge im Ukraine-Krieg so gedemütigt, dass sie sich zumindest einem Putsch von anderer Seite nicht entgegenstellen würde. Aber wie wahrscheinlich wäre das? Putin habe „ein sehr ausgeklügeltes System von verschiedenen bewaffneten Sicherheitsdiensten und anderen Organen geschaffen, die sich gegenseitig kontrollieren“, sagt der Russlandexperte Fabian Burkhardt vom Leibniz-Institut für Osteuropaforschung. Das dürfte einen Putsch massiv erschweren.

Ukrainischer Geheimdienst: Putin hat nur „Schönwettergeneräle“

Auch Ex-General Petraeus gibt zu bedenken, Putin als besonders „paranoider Führer“ habe einen enormen Sicherheitsapparat um sich herum aufgebaut, zusätzlich zu engen Vertrauten, die die großen Geheimdienste leiteten.

Was das erforderliche Potenzial der russischen Armeeführung anbelangt, klingt auch die ukrainische Seite skeptisch. Angesichts der vielen an der Front getöteten Kommandeure sagte der Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes, Kyrylo Budanow, jetzt dem „Spiegel“, das professionelle Niveau der russischen Generäle sei „extrem niedrig“. Ein Grund sei die Vetternwirtschaft in der russischen Armee: „Das sind Schönwettergeneräle“, meint Budanow, „Verwandte irgendwelcher Beamten, die ihren Aufgaben nicht gewachsen und nicht auf sie vorbereitet sind.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de