Berlin. Ex-Krankenpfleger Niels Högel spritzte mindestens 91 Patienten tot. Ein neuer Prozess soll endlich offenbaren, was wirklich passierte.

Der wohl schlimmste Serienmörder der Nachkriegszeit verbüßt seine lebenslange Haft hinter sechseinhalb Meter hohen Mauern in der Justizvollzugsanstalt Oldenburg. Dort sitzt Niels Högel in einer keine zehn Quadratmeter kleinen Zelle und wartet darauf, dass er demnächst für ein paar Stunden raus darf.

Voraussichtlich im Februar werden Beamte ihn zum nur wenige Kilometer entfernten Oldenburger Landgericht fahren. Anfang 2022 beginnt ein umfangreicher Prozess: Jahre nach Högels letztem Mord soll die Frage geklärt werden, wie der ehemalige Krankenpfleger mindestens 91 Patienten töten konnte, ohne dass jemand eingriff. Der 44-Jährige sagt als Hauptzeuge aus.

Angeklagt sind acht frühere Vorgesetzte, die mit Högel in den beiden niedersächsischen Kliniken zusammengearbeitet haben, in denen er zwischen 2000 und 2005 angestellt war – darunter Geschäftsführer, Chefärzte, eine stellvertretende Stationsleiterin. Mehr zum Thema:Patientenmörder Niels Högel: Deshalb tötete er regelmäßig

Warum hat niemand Niels Högel aufgehalten?

Immer wieder schlich er sich auf Krankenzimmer und spritzte wehrlose Intensivpatienten mit falschen Medikamenten tot. Die teils heute noch aktiven Mitarbeiter der Krankenhäuser in Oldenburg und Delmenhorst sollen absichtlich weggesehen haben, ist die Staatsanwaltschaft sicher. Sie wirft ihnen Totschlag durch Unterlassen vor.

Warum hat niemand Niels Högel aufgehalten? Der Autor Marco Seng geht davon aus, dass die Vorgesetzten die Behörden absichtlich nicht von ihrem Verdacht informiert haben, weil sie um den Ruf der Krankenhäuser besorgt waren.

Niels Högel bei einer früheren Gerichtsverhandlung.
Niels Högel bei einer früheren Gerichtsverhandlung. © picture alliance / dpa

„Die Vermutung liegt nahe, dass das Profitdenken der Kliniken eine Rolle gespielt hat“, sagt der 53-Jährige, der zusammen mit Karsten Krogmann (52) ein Sachbuch über Högel geschrieben hat („Der Todespfleger“, Goldmann).

Außerdem habe es auf den Stationen ein falsches Verständnis von Loyalität gegeben: „Man wollte einem Kollegen nicht ans Bein pinkeln.“ Der Prozess werde womöglich „weitere erschütternde Details ans Tageslicht bringen“. Lesen Sie hier:Anwalt will Klarheit: Schützte Klinikum den Serienmörder?

Wenn Högel im Dienst war, gab es auf seiner Station Tote

Der erfahrene Journalist Seng beschäftigt sich seit Jahren mit dem Fall, hat mit Angehörigen und Ermittlern gesprochen. „Die Geschichte der Mordserie Högel erzählt auch eine Geschichte vom Schweigen.“ Es habe klare Hinweise gegeben: Wenn Högel im Dienst war, stieg die Zahl der Todesfälle und der Verbrauch bestimmter Medikamente, die Högel den Patienten ohne Indikation spritzte.

Einigen Kollegen fiel das schon in Oldenburg auf. Doch die Klinik stellte Högel lediglich drei Monate bei vollen Bezügen frei und gab ihm sogar noch ein gutes Zeugnis mit auf den Weg. Er bekam sofort wieder Arbeit – im Krankenhaus Delmenhorst. Dort mordete er schon nach wenigen Tagen weiter. Bis er vor 16 Jahren auf frischer Tat ertappt wurde. Auch interessant: Niels Högel gesteht 100 Morde – Bedrückender Prozessauftakt

Gerichtsurteilen zufolge ging es Högel darum, Herzstillstände zu provozieren, um anschließend reanimieren zu können. Er habe so als Lebensretter glänzen wollen. Der frühere Chefermittler Arne Schmidt geht jedoch davon aus, dass das nicht die volle Wahrheit ist: „Am Ende ging es Herrn Högel nur noch darum zu töten.“

Der Prozess gegen die Vorgesetzten wird vermutlich mehr als ein Jahr dauern. Ob Högels Zeugenaussagen belastbar sind, ist fraglich. „Er ist ein notorischer Lügner“, so Seng. Trotzdem sei es gut, dass der Fall nun endlich juristisch aufgearbeitet werde. Die Hinterbliebenen der Opfer hätten ein Recht darauf.