Oldenburg. In der Klinik in Oldenburg wusste man, dass etwas mit dem Ex-Pfleger Niels Högel nicht stimmte. Ein Zeuge belastet die Leitung schwer.

Augen zu, Ohren zu. Bloß nichts mitbekommen. Und wenn doch: einfach den Mund halten. Das Schweigen von Schwestern, Ärzten und Pflegern begünstigte offenbar die Mordlust des ehemaligen Krankenpflegers Niels Högel – mindestens im Klinikum Oldenburg.

Dass es Mitschuldige am Fortlauf seiner Taten gibt, legt der Prozess vor dem Landgericht Oldenburg nahe. Die Frage ist: Wem wird man was nachweisen können? Und: Wie viele der 100 Morde, die der Angeklagte begangen haben soll, hätte das Klinikpersonal verhindern können?

Opfer-Sprecher: „Systematischer Schutz eines Serienmörders“

Der Sprecher von Opfer-Angehörigen, Christian Marbach, hatte der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ nach dem Prozess erklärt, sie fordere die Klinik-Leitung zur umfassenden Aufarbeitung auf. Man müsse dort auch unabhängig von strafrechtlichen Anklagen herausfinden, wer etwas wusste – und schwieg.

„Wir reden hier nicht darüber, dass jemand einen Falschparker nicht angezeigt hat“, sagte Marbach. „Wir reden hier über systematischen, organisatorischen Schutz eines Serienmörders - durch Ignorieren, Vergessen, Vermeiden.“

„Todeshögel hat wieder Dienst“

Beim Prozesstag am Dienstag kamen dazu passende Informationen ans Licht. Sie haben getuschelt über das Patientenleid, das mit Högel auf die Station kam – oft in scherzhaftem Ton: „Ach herrje, der Todeshögel hat schon wieder Dienst“, zitierte der Ex-Pfleger Frank L. am Dienstag als Zeuge eine Kollegin „mit Berliner Schnauze“.

Aus Spaß wurde tödlicher Ernst, etwa an jenem „Horror-Wochenende“ im September 2001, „an dem die Stimmung kippte“. Binnen drei Tagen mussten zwölf Patienten wiederbelebt werden, fünf starben nach Giftspritzen, die Högel ihnen verabreicht haben soll. Als L. die Klinik wechselte, hätten ihn Ex-Kollegen bedrängt, Anzeige zu erstatten.

Er könne das doch, er habe ja nichts mehr zu befürchten. „Die Eier musst du selber haben“, will L. damals einem Oldenburger Pfleger gesagt haben. Auch L. kniff zunächst, eine Depression habe ihn gelähmt, erzählt er heute. 2014 ging er zur Polizei und packte aus.

Wer hatte bei plötzlichen Todesfällen Dienst?

Erst da erfuhren die Ermittler, dass die Klinik schon seit 2001 schwer belastendes Material gegen Högel in der Hand hatte. Sie führte eine Strichliste darüber, welche Pfleger bei welchen plötzlichen Todesfällen anwesend waren. Die mit Abstand meisten Striche, nämlich 18, standen am Ende hinter dem Namen Högel.

Doch das kümmerte die Verantwortlichen nicht weiter. Weil alle dichthielten, konnte der Angeklagte weiter morden. Als der Vorsitzende Richter Sebastian Brühmann am Dienstag die Opfernamen von der Liste verlas, herrschte Totenstille im Saal. Stationsleiter Bernd N., der Mann, der die Strichliste geführt hat, nutzte sein Aussageverweigerungsrecht.

Gegen ihn und vier andere Klinikmitarbeiter ermittelt die Staatsanwaltschaft. Der Vorwurf: Totschlag durch Unterlassen. Bei einem Schuldspruch drohen bis zu fünf Jahre Haft.

Oldenburg: Henning Saß, Sachverständiger im Prozess gegen den wegen Mordes an 100 Patienten angeklagten Niels Högel, ist während des Prozesstages im Gerichtssaal und unterhält sich mit Högels Anwältinnen Kirsten Hüfken (l) und Ulrike Baumann.
Oldenburg: Henning Saß, Sachverständiger im Prozess gegen den wegen Mordes an 100 Patienten angeklagten Niels Högel, ist während des Prozesstages im Gerichtssaal und unterhält sich mit Högels Anwältinnen Kirsten Hüfken (l) und Ulrike Baumann. © dpa | Mohssen Assanimoghaddam

Wegschauen habe Struktur gehabt

Das Wegschauen des Klinikums bei Högel sei „kein Einzelfall, das hatte Struktur“, sagte Ex-Pfleger L. – und schilderte eine Misshandlung durch einen anderen Pfleger. Der habe einen Patienten mit Mullbinden „an den Hoden gefesselt“, um ihn zu beruhigen.

Der belastete Pfleger sei „als ruppige Natur bekannt“, so der Zeuge. Heute arbeite der Betreffende als Pfleger im Großraum München. Auf Anfrage teilte Klinikchef Dirk Tenzer mit, der Vorwurf sei bekannt. Man habe die Sache intern aufgearbeitet und keinen Hinweis auf einen solchen Vorgang gefunden.

Nicht schlauer wurde das Gericht durch den Auftritt des Oberarztes der Oldenburger Herzchirurgie, Dr. Michael H. Der erschien in Begleitung eines klinikerprobten Rechtsanwalts.

Oberarzt mit seltsamem Auftritt

Sein Auftritt wurde von einigen der rund 80 Zuhörer als „Eiertanz“ gewertet. Erst wollte der Oberarzt Högel gar nicht kennen, dann nur sein Gesicht von einem Foto, um am Ende zuzugeben, „dass Herr Högel in den Fokus geraten ist“ und es wohl auch die Ansage gab, „ihn im Auge zu behalten“. Das Gericht vereidigte den Oberarzt, als bislang einzigen Zeugen.

Das emotionale Schlusswort gehörte Frank L, der seinen späten Gang zur Polizei bereut: „Es tut mir unendlich leid, dass ich nicht zur Pflegedienstleitung gegangen bin“, sagte er mit stockender Stimme.