Berlin. Die Corona-Inzidenz hat sich binnen zwölf Tagen verdoppelt. Intensivmediziner sind alarmiert, Experten sorgen sich um den Schulstart.

Nach Monaten im Lockdown haben sich Millionen Menschen in Deutschland danach gesehnt, dass die Pandemie eine Sommerpause einlegt. Doch daraus wird nichts, die hochansteckende Delta-Variante des Coronavirus setzt sich durch. Seit Tagen gehen die Zahlen besorgniserregend steil nach oben.

Binnen zwölf Tagen kam es zu einer Verdoppelung der Sieben-Tage-Inzidenz. Am Donnerstagmorgen wurde sie mit 12,2 angegeben. Beim zwischenzeitlichen Tiefstand am 6. Juli hatte der Wert 4,9 betragen. Laut dem Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Donnerstag haben die Corona-Fallzahlen innerhalb einer Meldewoche bundesweit im Durchschnitt um 61 Prozent zugenommen. Der derzeitige Anstieg der Inzidenz ist demnach „vor allem in den Altersgruppen der 15- bis 34-Jährigen zu beobachten“.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nannte die jüngste Entwicklung bei ihrer Sommerpressekonferenz dramatisch – und wandte sich eindringlich gegen Impfmüdigkeit. „Je mehr geimpft sind, umso freier werden wir wieder sein.“

Jens Spahn warnt vor 800er-Inzidenz

Bereits am Vortag hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gewarnt, sollte sich der derzeitige exponentielle Anstieg fortsetzen, steige die Inzidenz bis September auf 400 und bis Oktober auf 800 an. Es wären Werte, wie sie Deutschland bisher nicht gesehen hat in der Pandemie.

Nach den Worten von SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ist Delta erheblich gefährlicher als vermutet. „Von allem, was wir bisher wissen, müssen wir davon ausgehen, dass die Delta-Variante sowohl ansteckender als auch tödlicher ist“, sagte Lauterbach unserer Redaktion.

Auch Intensivmediziner sind alarmiert und fordern ebenfalls mehr Fortschritt beim Impfen. Nur so sei Delta beherrschbar. Doch bekommt Deutschland die Lage rechtzeitig unter Kontrolle?

Wettlauf mit der Delta-Variante: Viele Menschen nutzen den Impf-Drive-in in Berlin-Lichtenberg.
Wettlauf mit der Delta-Variante: Viele Menschen nutzen den Impf-Drive-in in Berlin-Lichtenberg. © imago images/Stefan Zeitz | stefan zeitz via www.imago-images.de

Wie stark breitet sich Delta aus?

Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) ist die Delta-Variante inzwischen für drei Viertel aller Ansteckungen in Deutschland verantwortlich. Wie das Institut am Donnerstag in seinem Wochenbericht mitteilte, lag der Anteil von Delta zuletzt in einer zufällig für die Sequenzierung ausgewählten Stichprobe sogar bei 84 Prozent.

Am Donnerstag wurden binnen 24 Stunden 1890 Corona-Neuinfektionen und 42 Todesfälle im Zusammenhang mit dem Virus registriert. Die Zahl der gemeldeten Corona-Toten in Deutschland ist damit auf 91.458 gestiegen.

Die aktuellen Todesfälle sind aber nicht auf die Delta-Variante zurückzuführen. Das macht die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) deutlich. Auch die rund 350 Covid-19-Patienten, die derzeit auf Intensivstationen behandelt würden, seien in der überwiegenden Mehrheit Patienten aus der dritten Welle, die sich im Frühjahr mit der Alpha-Variante angesteckt hätten, sagte Divi-Präsident Gernot Marx unserer Redaktion.

Jedoch zeigten die Erfahrungen etwa aus Großbritannien, Spanien oder Portugal, dass die Zahlen in den hiesigen Kliniken schnell steigen könnten, „diese Gefahr besteht auch bei uns“.

Wie gehen die Impfungen voran?

In Deutschland sind 48 Prozent der Menschen – knapp 40 Millionen – vollständig gegen Covid-19 geimpft. 60,4 Prozent haben eine erste Dosis bekommen. Etliche Millionen Menschen sind hierzulande ungeschützt.

Zwar sind die meisten Angehörigen von Hochrisikogruppen immunisiert. Doch viele von ihnen wurden Anfang des Jahres geimpft. Ihr Schutz vor dem Virus dürfte sich nach Expertenmeinung bald abschwächen. Gerade mit Blick auf den „Delta-Herbst“ wird eine dritte Dosis rasch erforderlich.

Erschwerend kommt hinzu: Aus Israel kommen erste Anzeichen, dass der Biontech-Impfstoff etwas weniger wirksam sein könnte gegen die grassierende Delta-Variante.

Wie gefährlich ist Delta für jüngere Menschen?

Die Weltgesundheitsorganisation WHO zitierte in dieser Woche aus einer kanadischen Studie, wonach bei einer Covid-19-Erkrankung mit Delta-Variante auch die gesundheitlichen Risiken deutlich höher sind als bei frühen Corona-Typen.

Das Risiko, ins Krankenhaus zu müssen, war um etwa 120 Prozent erhöht, und die Gefahr, Intensivpflege zu benötigen, um 287 Prozent. Das Sterberisiko war um etwa 137 Prozent höher. Auf diese Studie bezog sich auch Lauterbach.

Er warnte zugleich vor den Folgen, die die Delta-Variante für Jüngere haben kann. „Mit einem leichten Verlauf für unsere Kinder ist nicht zu rechnen. Obwohl wir dort keine oder nur sehr wenige Todesfälle erwarten müssen, wird es viele auch schwere Verläufe geben, deren Endergebnis Long Covid auch für Kinder sein kann“, sagte Lauterbach.

Zwar gibt es die Möglichkeit, Kinder ab zwölf Jahren mit dem Biontech-Wirkstoff impfen zu lassen. Eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission gibt es aber nicht. Daher halten sich viele Eltern zurück.

Was bedeutet die Entwicklung für den Schulstart?

Ziel der Politik ist es, im neuen Schuljahr Unterricht in den Klassenzimmern zu ermöglichen. Hieran müsse sie sich messen lassen, sagt Ärztepräsident Klaus Reinhardt: „Kinder und Jugendliche brauchen für eine gesunde Entwicklung einen geregelten Schulbetrieb.“

Er schlägt tägliche Testungen vor Unterrichtsbeginn vor, zwei Schnelltests pro Woche reichten nicht aus. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, betonte: „Wer vollständigen Präsenzunterricht nach den Ferien will, muss auch alles dafür tun, dass er möglich sein wird.“ Die Politik sollte „sehr vorsichtig“ sein mit Versprechungen, die dann wegen eines unkalkulierbaren Infektionsgeschehens nicht haltbar seien.