New York. Der mexikanische Drogenboss Joaquín „El Chapo“ Guzmán steht in den USA vor Gericht. Die Geschworenen sprachen ihn am Dienstag schuldig.

Der „Kurze“, wie sie ihn wegen seines auf einsachtundsechzig gestauchten Körpers nennen, stutzte kurz verblüfft, als Richter Brian Cogan den Spruch der Geschworenen verkündete, die sechs Tage lang über einen der mächtigsten Drogenbosse der Welt zu Rate gesessen hatten: schuldig in allen zehn Anklagepunkten von Kokain-Schmuggel über Geldwäsche, Waffenmissbrauch und Mitgliedschaft in einem Verbrecher-Syndikat.

Joaquín Guzmán Loera, der ehemalige Chef des Sinaloa-Kartells, muss deshalb bis ans Lebensende hinter Gitter - ohne Möglichkeit auf Begnadigung. „Bei diesem Urteil gibt es kein Zurück und keine Flucht“, sagte Staatsanwalt Richard Donoghue.

Trotz der mitunter erdrückenden Beweislast und der vollständigen Verurteilung in allen Anklagepunkten wollten Guzmáns Verteidiger „natürlich“ Berufung einlegen, wie Lichtman sagte. „Der Kampf ist noch nicht vorbei“, sagte Lichtman. Über den äußerst harten Gerichtsprozess sagte er: „Wir haben wie die Teufel gekämpft.“

„El Chapo“, der sich wegen der außergewöhnlich langen Jury-Beratungen bis zuletzt Hoffnungen auf einen Freispruch gemacht hatte, suchte Dienstagmittag ein letztes Mal Augenkontakt zu seiner Ehefrau Emma Coronel, Mutter seiner beiden Töchter. Sie kämpfte auf den Besucherplätzen mit den Tränen und zeigte ihrem Mann zum Abschied die Daumen-hoch-Geste. Augenblicke später führten Justiz-Beamte El Chapo aus dem Gerichtssaal im New Yorker Stadtteil Brooklyn.

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Guzmáns künftiger Wohnort wird laut US-Justizkreisen möglicherweise eine Einzelzelle im Supermax-Hochsicherheitsgfängnis in Florence im US-Bundesstaat Colorado sein. Die Vollzugsanstalt, in der berüchtigte Kriminelle wie der „Schuhbomber“ Richard Reid und der einheimische Terrorist Ted „Unabomber“ Kaczynski einsitzen, gilt als Festung. Was im Fall El Chapo nicht unwesentlich wäre. Ihm gelang bereits zwei Mal die Flucht Ausbruch aus angeblich ausbruchssicheren mexikanischen Gefängnissen.

Geschworenen wurden 56 Zeugen vorgeführt

Staatsanwältin Andrea Goldbarg sprach vor wenigen Tagen in ihrem fünfstündigen Schluss-Plädoyer mit bebender Stimme von einer „Lawine der Beweislast“ gegen den 61-Jährigen.

Seit November vergangenen Jahres wurden den Geschworenen 56 Zeugen vorgeführt. Darunter 14 Überläufer des Sinaloa-Kartells, die früher für Narco-Dienste für El Chapo verrichtet hatten. Anhand von abgehörten Telefonaten, abgefangenen SMS-Nachrichten, Foto- und Videoaufnahmen und zigtausenden Dokumenten beschrieb die Anklage Guzmán als die fette Spinne im Netz schlechthin.

Binnen 25 Jahren seien unter seiner Führung über 200 Tonnen Kokain, Marihuana, Heroin und andere Drogen in die USA gebracht worden sein, erklärte die Ankläger in buchhalterischem Stil. Rein-Gewinn: 14 Milliarden Dollar. Kollateralschäden: über 3000 Tote.

Die Verteidiger um Jeffrey Lichtman hielten bis zuletzt daran fest: „El Chapo“ war nur ein höherer Angestellter. Der echte Capo sei bis zum heutigen Tag Ismael „El Mayo“ Zambada, beteuerten sie. Ein Mann, der Regierungen in Mexiko-City bestochen habe und darum auf freiem Fuß sei.

In der unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen von Richter Cogan straff navigierten Verhandlung bekam die Öffentlichkeit im Justizpalast am Cadman Place in Brooklyn die reale Vorlage von Netflix-Serien wie „Narcos“ präsentiert, die sich, Ironie des Zeitgeistes, ausgiebig El Chapo widmet:

Da war die diamantenbesetzte Pistole mit den Initialen - „JGL“ (für Joaquín Guzmán Loera), mit der El Chapo persönlich Widersacher niedergestreckt haben soll. Da war die bis ins Detail von Zeugen geschilderte Neigung zu grausamsten Gewaltausbrüchen, bei denen der zweifache Vater Gegnern aus nächster Nähe in den Kopf geschossen haben soll und sie danach auf einen brennenden Scheiterhaufen werfen ließ. Da war die Aussage des Zeugen Alex Cifuentes, der behauptete, El Chapo habe dem früheren mexikanischen Präsidenten Enrique Peña Nieto 100 Millionen Dollar Schmiergeld gezahlt, was dieser vehement dementiert.

Im Jahr 2017 Auslieferung nach Washington

Und da war schließlich die filmreife Vorgeschichte, die überhaupt erst zu diesem Prozess geführt hat: Guzmán war im Sommer 2015 aus dem Altiplano-Gefängnis in Mexiko entwischt. Ein Video der Wärter zeigte, wie er (angeblich) in der Duschtasse seiner Zelle verschwand. Dort war ein Loch, das zu einem 1,6 Kilometer langen Tunnel führte. Der Fluchtweg war auf die Körpergröße des Häftlings abgestimmt. Die Arbeiten an dem Tunnel begannen kurz nach Guzmáns Inhaftierung im Februar 2014.

Aber: In Freiheit traf sich Guzmán, eitel und erpicht darauf, dass seine in ärmlichsten Verhältnissen gestartete Lebensgeschichte verfilmt wird, im Oktober 2015 konspirativ mit Hollywood-Star Sean Penn. Dessen Interview erschien im Januar 2016 im Magazin „Rolling Stone“. Kurz danach wurde Guzmán in der Provinz Sinaloa verhaftet. Geheimdienste hatten das Treffen überwacht. 2017 folgte die Auslieferung an Washington, das nur eine Zusicherung gab: keine Todesstrafe.

Im Prozess war Guzmán bis auf Augenzwinkern und Luftküsse für seine Frau unkommunikativ aber meist gut gelaunt. Aus Angst vor einem Kreuzverhör verzichtete der in Anzug und Krawatte gewandete Top-Gangster sich zu verteidigen.

Als die Staatsanwälte die finanzielle Dimension seines Drogengeschäfts rekonstruierten, zog er kurz die Augenbrauen hoch und lächelte. Allein von 1990 bis 1993 organisierte Guzmán Guzman den Transport von 90 Tonnen Kokain in die USA. Der Stoff wurde in Dosen mit Jalapeños geschmuggelt. Per Zug. Im Auto. Durch Tunnel unter der Grenze. Gewinn allein hier: 1,5 Milliarden Dollar.

Drogen sind im Überfluss vorhanden

Emma Coronel Aispuro, die Ehefrau von Joaquin Guzman.
Emma Coronel Aispuro, die Ehefrau von Joaquin Guzman. © REUTERS | BRENDAN MCDERMID

Vor der Urteilverkündung hatte ein weltbekannter Autor und Experte mit einem Zwischenruf auf sich aufmerksam. gemacht. Don Winslow, der mit „Das Kartell“ und „Tage der Toten“ millionenfach verkaufte Klassiker mit großer Detail-Kenntnis über Mexikos Narco-Kartelle und Amerikas „war on drugs“ geschrieben hat, hält den Ausgang des El Chapo-Verfahrens aus der Vogelperspektive betrachtet für irrelevant. „Es spielt keine Rolle“. Am Drogen-Problem ändere sich nichts, schrieb der bei San Diego/Kalifornien lebende ehemalige Privat-Detektiv im US-Magazin Vanity Fair.

Nach der Festnahme Guzmáns habe der Schmuggel von Kokain, Heroin und Methamphetaminen in die USA nicht abgenommen. Zu Rivalen gewordene ehemalige Partner wie Ismael Zambada hätten das Revier übernommen.

Von einem Sieg im Kampf gegen die Drogen zu reden, verbiete sich darum. Die Liste gefasster Drogenbarone von Miguel Angel Gallardo über Carlos Lehder bis Pablo Escobar und Amado Carrillo Fuentes sei stattlich; ohne dass sich dies nennenswert bemerkbar gemacht habe.

Ohne Zustimmung anderer Bosse wohl keine Auslieferung

Im Gegenteil: „Drogen sind im Überfluss vorhanden, viel wirksamer und billiger als jemals zuvor“, schrieb Winslow, der seit 20 Jahren über das Thema forscht und bei der Drogenbehörde DEA, der Bundespolizei FBI, dem Geheimdienst CIA hohes Ansehen genießt und aus Recherche-Gründen mit Drogenhändlern, Abhängigen, Verurteilten und Angehörigen von Opfern des Drogen-Kriegs in Kontakt stand.

Nach Winslows Expertise ist Guzmán in erster Linie seinesgleichen zum Opfer gefallen. „Gangster-Bosse bleiben an der Macht, solange sie anderen Geld einbringen. El Chapo begann anderen Leuten Geld zu kosten.“ Durch seinen Drang nach Publicity habe die Aufmerksamkeit der Behörden auf das Drogengeschäft gelenkt - und damit gestört. Ohne Zustimmung anderer Kartell-Bosse und des mexikanischen Staates wäre Guzmán mutmaßlich nie an die USA ausgeliefert worden, vermutet Winslow und bilanziert knapp: „Er war entbehrlich geworden.“

Am Ende seines Zwischenrufs wurde Don Winslow grundsätzlich: Solange es Käufer von Drogen gebe, werde es Verkäufer geben. Und damit die Kartelle. Amerika müsse sich fragen, was es ist, dass seine „Seele korrumpiert“ und - siehe die aktuelle Opioide-Krise - permanent nach Drogen und Schmerzstillern verlangen lässt. Ohne eine Antwort darauf „wird das Drogen-Problem immer bei uns bleiben“.