Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht erklärt das Auswahlverfahren für Medizinstudenten in Teilen für verfassungswidrig und mahnt Reformen an.

Für Zehntausende Abiturienten ist es das große Ziel: ein Studienplatz für Medizin. Das Fach ist begehrt, der Arztberuf gilt als spannend und hoch angesehen. Doch nur ein Bruchteil derer, die Humanmedizin studieren wollen, dürfen es auch. Auf 43.184 Bewerber bundesweit kamen im Wintersemester 2017/2018 nur 9176 Studienplätze an den staatlichen Universitäten. Wer Chancen haben wollte, sich einschreiben zu dürfen, musste deswegen einen extrem guten Abiturschnitt vorweisen können – oder eine ganze Menge Wartesemester.

Dieses System erklärte das Bundesverfassungsgericht jetzt für dringend reformbedürftig. In einem Urteil vom Dienstag entschied das Gericht, dass das derzeitige Verfahren bei der Vergabe von Studienplätzen teilweise verfassungswidrig ist. Bund und Länder haben jetzt den Auftrag, bis Ende 2019 die Auswahl der Studierenden gerechter zu gestalten.

Wer bekommt derzeit einen Medizin-Studienplatz?

Derzeit werden 20 Prozent der Studienplätze nach der Abiturnote vergeben, weitere 20 Prozent gehen an Bewerber, die genügend Wartesemester gesammelt haben. Zuletzt bedeuteten die Regeln: Bewerber brauchen entweder einen Schnitt von höchstens 1,1 oder 14 bis 15 Wartesemester. Das ist länger als die Regelstudienzeit.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sieht im bisherigen Auswahlverfahren die freie Berufswahl beeinträchtigt.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts sieht im bisherigen Auswahlverfahren die freie Berufswahl beeinträchtigt. © dpa | Sina Schuldt

Über die Vergabe der restlichen 60 Prozent entscheiden die Hochschulen selbst. Doch auch hier wird vor allem nach Note ausgewählt. Dazu kommt: An den Auswahlverfahren der Universitäten, wie zusätzlichen Tests und Gesprächen, kann häufig überhaupt nur teilnehmen, wer die entsprechende Universität bei der Bewerbung über die Stiftung für Hochschulzulassung als erste Priorität bei der Ortswahl angegeben hat.

Was bemängelt das Gericht?

Dass ein Fünftel der Plätze nach der Abiturnote vergeben wird, ist nach Auffassung von Karlsruhe rechtmäßig – grundsätzlich gekippt wurde der Numerus clausus also nicht. Als problematisch beurteilen die Richter aber, dass auch bei den 60 Prozent der Zulassungen, über die die Hochschulen selbst entscheiden können, die Note im Abitur häufig ausschlaggebend ist. Anders als bei der Abiturbestenquote gebe es hier keinen Mechanismus, der die Unterschiede in den schulischen Anforderungen der Bundesländer ausgleicht, so das Gericht. Damit werde in Kauf genommen, dass Abiturienten „erhebliche Nachteile“ haben können, abhängig davon, wo sie ihren Abschluss gemacht haben. Außerdem kritisieren die Richter, dass die angegebene Ortspräferenz sowohl in der Vergabe über die Abiturbestenquote als auch in der Auswahl der Hochschulen das Gewicht der Noten „überlagert und entwertet“.

Heißt das, es kann jetzt jeder Medizin studieren?

Nein. Das Studium der Humanmedizin ist nach wie vor zugangsbeschränkt. Nur die Voraussetzungen, unter denen Bewerber Zugang zu den Hörsälen und Laboren erhalten, sollen sich ändern. Wie die neuen Auswahlkriterien genau aussehen werden, hängt davon ab, welchen gesetzlichen Rahmen Bund und Länder dafür aufstellen. Die Richter haben keine konkreten Vorgaben für das Auswahlverfahren gemacht. Festgelegt ist nur, dass mindestens ein „nicht schulnotenbasiertes, anderes eignungsrelevantes Kriterium“ mitberücksichtigt werden muss. Das kann zum Beispiel eine einschlägige Ausbildung sein.

Auch Wartesemester sollen weiterhin ein Kriterium für die Vergabe sein – allerdings nicht unbegrenzt. Zu lange Wartezeiten schränken die Aussicht auf Studienerfolg ein und damit das Recht auf freie Berufswahl, argumentierte das Gericht. Karlsruhe mahnte deshalb eine Beschränkung der Wartezeit an, selbst wenn das bedeutet, dass einige Bewerber am Ende trotz Wartesemestern leer ausgehen werden.

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    Wie sehen Ärzte das Urteil?

    Die Bundesärztekammer begrüßte die Entscheidung. Das Urteil sei „das richtige Signal zur richtigen Zeit“, sagte Frank Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK). Bund und Länder müssten dies jetzt zum Anlass nehmen, die Zulassung zum Studium gerechter zu gestalten. Wenn es nach der Standesorganisation der Mediziner geht, sollen bei der Reform vor allem einschlägige Berufserfahrung und soziale Kompetenzen wie Empathiefähigkeit stärker berücksichtigt werden.

    Was sagen die Hochschulen?

    Die Richter haben klargestellt, dass die konkrete Ausgestaltung der Eignungsprüfung – sofern fair und auf das fachliche konzentriert – Sache der Hochschulen ist. Das freut die Universitäten, die die angehenden Mediziner ausbilden. „Damit wird die hochschulische Profilbildung gestärkt“, erklärte Horst Hippler, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, am Dienstag.

    Geklagt hatten ein Bewerber aus Hamburg und eine Bewerberin aus Schleswig-Holstein. Der 26-Jährige aus Hamburg hatte sein Abitur mit 2,6 abgeschlossen, außerdem Ausbildungen zum Rettungsassistenten und -sanitäter absolviert, bevor er nach 15 Semestern Wartezeit eine Zusage von der Universität Marburg erhielt. Die 21-jährige zweite Klägerin hatte sich mit einem Abitur von 2,0 beworben und in der Wartezeit eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin gemacht. Sie studiert inzwischen ein anderes medizinisches Fach.

    Einen Kommentar zum Thema lesen Sie hier: Mieses Zeugnis für Politik