Berlin. Verbrauchern droht zum Monatsende die Verjährung. Was Sie wissen müssen, um sich der Musterfeststellungsklage noch anzuschließen.

Vier Jahre nach Bekanntwerden des Dieselskandals bei VW sitzt der Frust bei Verbrauchern in Deutschland tief. Wer nicht auf eigenes Risiko oder mithilfe einer Rechtsschutzversicherung gegen den Konzern geklagt hat, ist anders als VW-Besitzer in den USA leer ausgegangen.

Hunderttausende Verbraucher setzen auf die Musterfeststellungsklage, die ab dem 30. September vor dem Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig verhandelt wird. Wer sich auch Hoffnung auf Schadenersatz machen möchte, muss bis dahin handeln – sonst droht die Verjährung.

Bei weltweit elf Millionen Dieselmotoren des Typs EA189 musste VW im September 2015 Manipulationen bei der Abgasreinigung eingestehen. In vielen Städten gibt es inzwischen Diesel-Fahrverbote, die gebrauchten Diesel-Autos haben massiv an Wert verloren. Volkswagen zählt in Deutschland bislang 62.000 Einzelklagen gegen den Autokonzern und dessen Händler. Selten wird ein Fall bis zu einem Urteil ausgefochten – und wenn, dann geht die Sache in der Regel im Sinne von VW aus.

VW einigt sich nach Diesel-Skandal oft auf Vergleiche

Von 62 OLG-Entscheidungen seien 52 zugunsten des Konzerns ausgegangen, heißt es in Wolfsburg. Wie viele Verfahren mit einem Vergleich endeten, in dem VW das Auto zurückkauft, ist unbekannt. Und über die Inhalte werden die Kläger zu Stillschweigen verpflichtet.

„Gemessen an der Gesamtzahl der Verfahren ist die Anzahl der Vergleiche aus unserer Sicht nicht überproportional hoch“, sagt ein VW-Sprecher unserer Redaktion. Und er betont, dass es dem Autokonzern bei einem Vergleich nicht „einzig um die Vermeidung von negativen Urteilen“ gehe. Vielmehr handele es sich „jeweils um Einzelfallentscheidungen, bei denen insbesondere auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle spielen“.

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Prozess könnte länger als vier Jahre dauern

Christopher Rother sieht das anders. Von Einzelfällen will er nicht sprechen. Der Anwalt ist ein prominentes Gesicht im Dieselskandal. Bis zum Jahreswechsel zog er für die US-Großkanzlei Hausfeld für geprellte Autofahrer gegen VW ins Feld. Jetzt ist der Chef des Prozessfinanzierers Profin und hat nach eigenen Angaben 31.400 Mandate für Klagen gegen VW in der Prüfung. Er will eine Erfolgsquote von mindestens 90 Prozent erreichen. Dann lohnt sich die Sache für das Unternehmen und dessen Investoren. Prozessfinanzierer verlangen Provisionen von bis zu 25 Prozent des Erlöses.

Wenige Tage vor dem Prozessauftakt für die Musterfeststellungsklage machen Anwälte wie Rother mobil. Sie sehen den neuen Klageweg, der erst infolge des Dieselskandals geschaffen worden ist, als ungeeignet an. „Die Frustration und die Enttäuschung der Kunden wird groß sein“, sagt Rother.

Er warnt vor einer langen Prozessdauer. Mindestens vier Jahre würden Verhandlungen vor dem OLG Braunschweig und am Bundesgerichtshof dauern – eventuell muss in Grundsatzfragen auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) eingeschaltet werden. Anschließend müssen Verbraucher individuell ihre Ansprüche durchsetzen, sollte VW nicht vorher einlenken.

436.300 Verbraucher nutzen Musterfeststellungsklage

Bis zum Ende der ersten Septemberwoche hatten sich nach Angaben des zuständigen Bundesamts für Justiz 436.300 Verbraucher in das Klageregister eingetragen. Bei der Musterfeststellungsklage sollen für eine Vielzahl von Streitfällen relevante Fragen gebündelt geklärt werden. Die Prozessdauer ist für den späteren Schadenersatz ausschlaggebend, betont Rother.

Bislang sei in den meisten Vergleichen, die VW einging, ein Nutzungsabzug berechnet worden. Sollte bei der Musterfeststellungsklage also nach vier Jahren ein Urteil fallen, sind die betroffenen Autos mindestens acht Jahre alt. Rother: „Dann ist der Schadenersatz irgendwann aufgefressen.“ Mit einer individuellen Klage kämen VW-Fahrer in der Regel innerhalb von zwölf Monaten an ihr Geld, behauptet er.

Tatsächlich dürfte es mit der für Verbraucher kostenlosen Musterfeststellungsklage nicht ganz so schnell gehen. „Wir gehen von einer Verfahrensdauer von zwei bis drei Jahren aus – es kann aber auch deutlich länger dauern“, sagt Ronny Jahn, Teamleiter Musterfeststellungsklagen beim Verbraucherzentrale Bundesverband. Die Verbraucherzentrale zieht für die geprellten VW-Besitzer vor Gericht.

Einzelkläger könnten schneller an Geld kommen – aber mehr verlieren

Ob eine individuelle Klage am Ende mehr Geld bringe als die Musterfeststellungsklage, sei nicht absehbar. „Seriöserweise kann heute niemand beurteilen, wovon ich als Verbraucher am Ende mehr habe“, sagt Jahn unserer Redaktion. Ein möglicherweise entscheidender Punkt: Ob die jahrelange Nutzung des Fahrzeugs vom Schadenersatz abgezogen werden muss, ist bislang nicht geklärt.

„Wenn etwa der Bundesgerichtshof bei der Musterfeststellungsklage entscheidet, es ist kein Nutzungsabzug vorzunehmen, dann stehen die Einzelkläger deutlich schlechter da, die nach erfolgreicher Klage eine Vergütung an den Prozessfinanzierer zahlen müssen“, sagt Jahn. Verbraucher müssen also abwägen. „Wer das schnelle Geld sucht, wird sich möglicherweise später ärgern“, sagt der Anwalt Rolf Stoll, die Verbraucherzentrale bei der Musterfeststellungsklage vertritt.

Verbraucherzentrale mahnt zur Vorsicht

Für welchen Weg sich VW-Besitzer auch entscheiden – die Zeit drängt. „Die Entscheidung, sich der Musterfeststellungsklage anzuschließen oder den individuellen Klageweg zu beschreiten, muss in den nächsten zwei Wochen getroffen werden“, sagt Verbraucherschützer Jahn. Genauer gesagt: Bis spätestens Freitag, 27. September, vor Verhandlungsauftakt in Braunschweig alle Fristen sicher einzuhalten.

Verbraucher können sich bis dahin auch noch kostenlos der Musterfeststellungsklage anschließen – Informationen dazu gibt es unter www.musterfeststellungsklagen.de.

Wer von der Musterfeststellungsklage jetzt noch auf den individuellen Klageweg wechseln möchte, den mahnt Jahn zur Vorsicht. „Eine Austragung aus dem Klageregister ohne definitive Zusage durch einen Prozesskostenfinanzierer ist riskant“, sagt er. „Vorab ist zu klären, ob der Fall übernommen wird und was das kostet.“