Brüssel. Deutschland und Frankreich drängen auf eine Fusion von Siemens und Alstom. Wettbewerbshüterin Margrethe Vestager gerät in die Kritik.

Lange galt die oberste EU-Wettbewerbshüterin Margrethe Vestager als Star der Brüsseler Kommission. Unerschrocken nahm die forsche Dänin als zuständige Kommissarin in den vergangenen Jahren Großkonzerne vor allem der Internetbranche an die Kandare.

Doch jetzt dreht sich in der EU der Wind: Die Kritik an der Wettbewerbspolitik nimmt zu, die Rufe nach einem Kurswechsel werden lauter, Vestager und ihre Beamten werden schon als „Wettbewerbs-Ajatollahs“ beschimpft.

Wirtschaftsminister Altmaier fordert „europäische Champions“

Damit Europa in der globalen Konkurrenz vor allem mit China bestehen kann, dürfe Brüssel nicht länger die Fusion europäischer Unternehmen zu weltweit schlagkräftigen Konzern behindern, fordern Wirtschaftsbosse und Politiker.

„Wir brauchen mehr europäische Champions, um uns im Wettbewerb mit China und den USA zu behaupten“, verlangt etwa Wirtschaftsminister Peter Altmaier. „Dazu muss ein Unternehmen eine bestimmte Größe haben, damit es in dem Marktsegment mithalten kann.“

Frankreichs Wirtschaftsminister hält Wettbewerbsrecht für „obsolet“

Und Altmaiers französischer Kollege Bruno Le Maire sagt: „Das europäische Wettbewerbsrecht ist obsolet, weil es Europa nicht erlaubt, seine eigenen industriellen Champions aufzubauen.“

Auch der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) fordert jetzt erstmals eine Lockerung der Fusionskon­trolle, um im „Systemwettbewerb“ auf die staatlich gepäppelte Konkurrenz Chinas reagieren zu können.

Blockiert die EU tatsächlich den Aufbau von heimischen Global Playern – zum Schaden Europas, zum Nutzen Chinas?

Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire hält das europäische Wettbewerbsrecht für „obsolet“.
Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire hält das europäische Wettbewerbsrecht für „obsolet“. © imago/IP3press | Christophe Morin

Testfall wird die Fusion von Siemens und Alstom

Zum Testfall wird nach Ansicht der Kritiker die geplante Fusion der Bahnsparten von Siemens und Alstom, den Herstellern von ICE- und TGV-Zügen. Der deutsch-französische Deal soll den zweitgrößten Konzern für Eisenbahntechnik der Welt schaffen und damit dem bislang übermächtigen chinesischen Zughersteller CRRC Paroli bieten können.

CRRC setzt bereits dazu an, mit üppiger Hilfe des chinesischen Staates den europäischen Markt zu erobern – die Fühler hat der Gigant schon ausgestreckt.

Alstom und Siemens wollen sich mit einer Art „Airbus auf Schienen“ wehren. Doch der „Railbus“-Deal stößt bei Wettbewerbskommissarin Vestager auf große Skepsis.

Sie warnt, durch den Zusammenschluss der bisherigen Konkurrenten entstehe in wichtigen Segmenten wie den Hochgeschwindigkeitszügen in Europa eine monopolistische Marktposition – zum Nachteil der Bahnkunden, die höhere Preise zahlen müssten.

Französische Regierung macht Druck für eine Genehmigung der Fusion

Das China-Argument will Vestager dagegen nicht gelten lassen, CRRC sei in Europa noch schwach. Diese Haltung ist schon in der Brüsseler Kommission umstritten.

In der Regel nicken die 28 Kommissare die Empfehlungen Vestagers nur ab, bei Siemens-Alstom kam es in dieser Woche ausnahmsweise zu einer kontroversen Aussprache in der Kommission.

Es gehe um die Frage, ob Europa in 30 Jahren noch in der Weltliga mitspiele, warnten Vestagers Kollegen in der Runde. Die französische Regierung macht massiv Druck für eine Genehmigung der Fusion.

Die europäische Marktwirtschaft soll widerstandsfähiger werden

Aber auch Altmaier drängt von Berlin aus: „Wir müssen ein Interesse daran haben, dass es in allen wesentlichen technologischen industriellen Bereichen europäische Champions gibt, die weltweit im Wettbewerb bestehen können.“

Neben Deutschland und Frankreich haben 16 weitere EU-Staaten vor wenigen Wochen in einer gemeinsamen Erklärung eine Anpassung der Wettbewerbsregeln gefordert, um strategische Fusionen zu erleichtern.

In Zeiten von „America first“ und der offensiven Staats-Industriepolitik Chinas wollen die Regierungen die europäische Marktwirtschaft widerstandsfähiger machen und gleiche Wettbewerbsbedingungen sichern.

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) setzt auf einen „europäischen Champion“.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) setzt auf einen „europäischen Champion“. © dpa | Kay Nietfeld

Nur 17 der 100 wertvollsten Konzerne stammen aus der EU

Kritiker verweisen auf eine bedrohliche Entwicklung: Vor einem Jahrzehnt waren 28 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt in der EU zu Hause. Jetzt sind es noch 17 von 100, nach dem Austritt Großbritanniens nur noch zwölf.

Die EU blockiert keineswegs durchweg große Zusammenschlüsse, wie zuletzt Fusionen auf dem Stahlmarkt zeigen. Doch Brüssel fehle der strategische Weitblick, beklagen Wirtschaftspolitiker.

Die EU dürfe nicht allein den Binnenmarkt als relevant für die Entscheidung über europäische Fusionen betrachten, fordert der BDI.

Vestager warnt davor, den „Wettbewerb auszuhöhlen“

Im aktuellen Fall naht die Entscheidung, bis zum 18. Februar muss sich die Kommission festgelegt haben. Siemens und Alstom haben der Behörde zuletzt angeboten, unter anderem Teile der profitablen Signaltechnik abzugeben, doch Vestager reicht das wohl nicht.

Sie sieht ihre Position durch Bedenken der Kartellbehörden Deutschlands, Spaniens, Belgiens und der Niederlande bestätigt. „Wir können Champions nicht aufbauen, indem wir den Wettbewerb aushöhlen“, warnt die Kommissarin.

Vestager ist von Macron abhängig

Im Management von Siemens und Alstom werden inzwischen eine Ablehnung des Deals oder unerfüllbare Auflagen der Kommission befürchtet. In Brüssel sieht man Vestager indes in der Zwickmühle. Die Ablehnung des Deals würde Frankreichs Präsident Emmanuel Macron düpieren, der energisch für „Railbus“ kämpft.

Doch auf Macron stützen sich zugleich Vestagers Zukunftspläne: Die sozialliberale Dänin gilt als Anwärterin für den Posten des Kommissionspräsidenten, eine von Macron geschmiedete Allianz im EU-Parlament will sie ins Rennen schicken. „Vielleicht lenkt sie auch deshalb noch ein“, heißt es in der Kommission.