Berlin. Mit Gesichtserkennung in Geschäften will der Einzelhandel die Vorlieben seiner Kunden entschlüsseln. Datenschützer sind alarmiert.

Geschlecht: männlich. Alter: zwischen 22 und 32. Stimmung: zu 44 Prozent glücklich. Der Bildschirm zeigt das Foto einer Person, deren Gesicht gerade gescannt wird. Daneben ein Kästchen, das verrät, wer da gerade vor der Kamera steht.

In Sekundenschnelle entschlüsselt die Software, ob die Person lacht oder weint, ob sie 22 oder 42 ist. Fachleute nennen das „Emotional Decoding“. Ein Verfahren, das dem Einzelhandel steigende Erlöse bringen soll, vor dem Verbraucherschützer jedoch warnen.

Software soll Vorlieben einer Person erkennen

Normalerweise werden so die Vorlieben eines Kunden entschlüsselt. In diesem Fall aber steht Thomas Fehn selbst vor der Kamera. Er ist Chef des Berliner Start-ups Pyramics mit Sitz in Charlottenburg, das die Software entwickelt hat. Alter, Geschlecht, Emotionen – und damit auch die Vorlieben einer Person –, all das soll die Software per biometrischer Gesichtserkennung dem Anwender verraten können.

Das machen sich vor allem Unternehmen zunutze. Mithilfe von Kameras vor Schaufenstern, Werbetafeln oder am Supermarktregal analysieren sie, wer wie lange etwas betrachtet – und ob ihn das, was er sieht, erfreut oder verärgert.

Werbung an der Kasse wird automatisch an Kunden angepasst

Seit Anfang des Jahres verkauft Pyramics das Analysesystem an Einzelhändler, die setzen das System etwa an der Kasse ein. Erkennt die Software, dass überwiegend Männer Schlange stehen, wird auf einem Werbeschirm eher Autowerbung gezeigt, sind es mehr Frauen, wird der Spot des Blumenhändlers abgespielt. „Werbung da einsetzen, wo man sie am besten vermarkten kann, das ist unser Ziel“, sagt Thomas Fehn, Geschäftsführer von Pyramics.

Amazon-Supermarkt ohne Kassen eröffnet

Man nimmt, was man braucht und geht einfach raus: In Seattle hat der Handelskonzern Amazon seinen ersten Supermarkt eröffnet. „Amazon Go“ kommt ganz ohne Kassen aus: Kunden müssen sich fürs Bezahlen lediglich eine App herunterladen.
Man nimmt, was man braucht und geht einfach raus: In Seattle hat der Handelskonzern Amazon seinen ersten Supermarkt eröffnet. „Amazon Go“ kommt ganz ohne Kassen aus: Kunden müssen sich fürs Bezahlen lediglich eine App herunterladen. © REUTERS | JEFFREY DASTIN
Ganz ohne Mitarbeiter kommt der Amazon-Laden aber nicht aus. Laut Medienberichten bereiteten mehrere die Salate zu, andere befüllten die Regale, einer stehe zur Begrüßung am Eingang, ein weiterer kontrolliere das Alter der Kunden am Regal mit alkoholischen Getränken.
Ganz ohne Mitarbeiter kommt der Amazon-Laden aber nicht aus. Laut Medienberichten bereiteten mehrere die Salate zu, andere befüllten die Regale, einer stehe zur Begrüßung am Eingang, ein weiterer kontrolliere das Alter der Kunden am Regal mit alkoholischen Getränken. © REUTERS | JEFFREY DASTIN
Überall im Laden sind Dutzende Kameras und Sensoren installiert. Hier registriert Amazon, welche Artikel ein Käufer aus dem Regal holt und auch einpackt.
Überall im Laden sind Dutzende Kameras und Sensoren installiert. Hier registriert Amazon, welche Artikel ein Käufer aus dem Regal holt und auch einpackt. © REUTERS | JEFFREY DASTIN
Für den Einkauf und die Abrechnung komme das System dabei ohne Gesichtserkennung aus, betont Amazon. Die Menschen würden vom System stattdessen als „3D-Objekte“ wahrgenommen.
Für den Einkauf und die Abrechnung komme das System dabei ohne Gesichtserkennung aus, betont Amazon. Die Menschen würden vom System stattdessen als „3D-Objekte“ wahrgenommen. © dpa | Uncredited
Am Ausgang hält der Ladenbesucher wiederum das Telefon an eine Schranke, um „auszuchecken“.
Am Ausgang hält der Ladenbesucher wiederum das Telefon an eine Schranke, um „auszuchecken“. © REUTERS | JEFFREY DASTIN
Noch scheinen sich die Kunden allerdings an das neue Einkaufserlebnis gewöhnen zu müssen: Für Testkäufer der „New York Times“ fühlte sich der Einkauf wie ein Ladendiebstahl an – zumindest bis wenige Minuten nach Abschluss die Rechnung von Amazon im E-Mail-Postfach landete.
Noch scheinen sich die Kunden allerdings an das neue Einkaufserlebnis gewöhnen zu müssen: Für Testkäufer der „New York Times“ fühlte sich der Einkauf wie ein Ladendiebstahl an – zumindest bis wenige Minuten nach Abschluss die Rechnung von Amazon im E-Mail-Postfach landete. © REUTERS | JEFFREY DASTIN
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Die Nachfrage nach derlei Software steigt. In den USA kommt die Technik etwa bei dem erst kürzlich eröffneten Supermarkt des Onlinehändlers Amazon in Seattle zum Einsatz. Auch große Einzelhandelsketten haben den Feldversuch gewagt. Doch nicht alle Versuche sind bislang gelungen.

Die Supermarktkette Real nutzte die Software

Die Supermarktkette Real ließ im Herbst 2016 in 40 Filialen die Gesichter ihrer Kunden analysieren. Im Kassenbereich wurden Kameras installiert, die den Blickkontakt der Kunden aufzeichneten. Erfasst wurden Zeitpunkt und Dauer der Werbebildschirme, die Anzahl der Betrachter, ihr geschätztes Alter sowie ihr Geschlecht.

Auch Real wollte verstehen, wofür sich Kunden interessieren, und die ausgespielte Werbung so besser anpassen. Schon nach wenigen Wochen wurde der Testbetrieb wieder eingestellt. In der Öffentlichkeit sei der Eindruck entstanden, in den Märkten „würden im Kassenbereich ohne Wissen der Kunden Daten erhoben“, berichtete etwa die „Lebensmittelzeitung“.

Treffsicherheit ist bei den Systemen häufig noch ein Problem

Der Verein Digitalcourage kündigte daraufhin an, Strafanzeige gegen das Unternehmen zu stellen. Die Videoüberwachung werde zweckentfremdet und diene nicht mehr dem eigentlichen Ziel, Diebe zu fassen, so die Kritik. Weltweit gibt es bereits zahlreiche Anbieter solcher Analysesysteme. Sie alle preisen die Zielgenauigkeit, versprechen bessere Angebote. Treffsicher sind die Systeme allerdings nicht immer.

Pyramics forscht seit drei Jahren an der Software. Geschäftsführer Fehn, studierter Wirtschaftsinformatiker, entwickelte das System auf Grundlage einer Software, die am Fraunhofer-Institut erfunden wurde: „Die Software wurde mit Tausenden Gesichtsdaten gefüttert. Anhand von festgelegten Merkmalen lernt ein Algorithmus, die Gesichter von Frauen und Männern zu unterscheiden und deren Alter zu erkennen“, erklärt der 28-Jährige. Mittlerweile erkenne die Software auch Merkmale wie einen Bart oder eine Brille, sagt Fehn.

Online ist massenhaftes Datensammeln längst etabliert

Im Einzelhandel mag die Analyse des Kundenverhaltens noch befremdlich wirken. Online hingegen hat sich das massenhafte Datensammeln längst etabliert. Nahezu jeder große Onlinehändler misst über sogenannte Tracker in Echtzeit, wie lange eine Kunde einen bestimmten Artikel ansieht oder auf welche Seiten er klickt. Anschließend werden die Daten ausgewertet. Völlig automatisch optimieren Händler so ihre Angebote auf den Seiten und schaffen es, ihren Umsatz zu steigern.

Angesichts der wachsenden Konkurrenz durch den Onlinehandel müssen sich auch die Händler auf der Straße etwas einfallen lassen, um besser auf Kunden reagieren zu können. „Der Einzelhandel ist mittlerweile nicht mehr in der Lage, richtig zu reagieren“, sagt Fehn. Die Technologie sei Grundlage dafür, den Offlinehandel wieder zu stärken und zu versuchen, Chancengleichheit zwischen online und offline zu schaffen.

76 Prozent der Verbraucher lehnen Gesichtserkennung im Supermarkt ab

Verbraucherschützer allerdings halten wenig von der neuen Art und Weise, auf die Wünsche der Kunden einzugehen. Einer repräsentativen Umfrage der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen zufolge lehnen 76 Prozent der Befragten Gesichtserkennung im Supermarkt ab.

Besonders die Aufzeichnung für zielgruppengerichtete Werbung stößt auf wenig Akzeptanz. Für mehr als zwei Drittel der Befragten wäre automatische Gesichtserkennung sogar ein Grund, den Supermarkt nicht mehr zu besuchen. Eine Sorge, über die auch Real in seiner Mitteilung zum eingestellten Testbetrieb berichtete.

Datenschützer sehen die Technik kritisch

Ob die Technik mit dem Datenschutz vereinbar ist, ist umstritten. Gesichtserkennung zu Marketingzwecken ist bei Datenschützern deutlich umstrittener als beispielsweise sicherheitsrelevante Videoüberwachung. Auch die Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit (BfDI) hat die neue Technik im Visier.

Informationen über den Menschen und dessen biometrische Eigenschaften zu entschlüsseln sei aus datenschutzrechtlicher Perspektive immer heikel, heißt es vom BfDI. Je detaillierter die Technik den Menschen durchleuchtet, je sensibler die Daten, desto eher fällt die Technik in einen rechtlichen Graubereich.

Daten würden nicht gespeichert

Pyramics-Gründer Fehn beschwichtigt: „Wir speichern nichts, sondern erkennen lediglich Merkmale.“ Die Bilder könnten im Nachhinein nicht mehr abgerufen, die Daten keiner Person zugeordnet werden.

Allerdings: Technisch möglich ist das längst. Bestes Beispiel ist das umstrittene Pilotprojekt der Bundespolizei am Berliner Bahnhof Südkreuz. Seit August vergangenen Jahres erprobt sie dort, ob mit der Technik die Fahndung nach Terroristen, Gefährdern und schweren Straftätern verbessert werden kann.

Eine erste Auswertung zeigte, dass gesuchte Personen zu 70 Prozent erkannt worden seien. Da aber nur wenige Hundert Teilnehmer überhaupt an der Studie beteiligt sind, seien die Zwischenergebnisse für aussagekräftige Studien zu klein, schätzt etwa das Blog Netzpolitik.org.