Berlin. Forscher suchen nach besseren Behandlungsmethoden für Patientin, die unter Diabetes leiden. Wird das tägliche Piksen bald überflüssig?

Eine Generation neuer Medikamente soll in der Diabetes-Therapie neue Wege ermöglichen. Dazu trifft sich in Bochum am heutigen Donnerstag die europäische Spitzenklasse der „Inkretin-Forschung“. Von der Stoffwechselerkrankung sind bundesweit über sieben Millionen Menschen betroffen, Tendenz steigend.

95 Prozent der Betroffenen haben laut der Deutschen Diabetes Gesellschaft Diabetes vom Typ 2. Für viele heißt das: regelmäßig den Blutzucker checken, Medikamente nehmen, Insulin spritzen und stets auf eine Unterzuckerung vorbereitet sein.

Neue Medikamente können die bisherige Therapie der Erkrankung verbessern – und zum Teil das Risiko für gefürchtete Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall minimieren. Die sogenannten GLP1-Rezeptor-Agonisten wirken nicht wie das Bauchspeicheldrüsenhormon Insulin, sondern regen die Insulinausschüttung aus der Bauchspeicheldrüse an – wie es auch bestimmte Hormone, die Inkretine, aus dem Darm gesunder Menschen tun. Maßgeblich an der Entwicklung der neuen Medikamentengruppen beteiligt war Prof. Michael Nauck, Leiter der klinischen Forschung im Diabetes-Zentrum Bochum/Hattingen.

Keine Gewichtszunahme mehr

„GLP1-Rezeptor-Agonisten haben einen ganz natürlichen Wirkmechanismus“, sagte Nauck unserer Redaktion. „Es gibt eine Standarddosierung, die unter die Haut gespritzt wird, bei der jüngsten Präparate-Generation reicht das einmal pro Woche. Sobald der Blutzuckerspiegel Normalzustand erreicht, hören die Hormone auf zu arbeiten – ganz anders als Insulin, das extrem schwer und für jeden Patienten individuell zu dosieren ist.“

Zudem hemmen die Medikamente die Ausschüttung von Glucagon, das den Blutzuckerspiegel steigen lässt, und verlangsamen die Entleerung des Magens. Sie wirken auch im Gehirn, vermindern Hunger und verstärken das Sättigungsgefühl.

Nauck: „Die Patienten legen kein Gewicht zu wie Diabetiker, die mit Insulin behandelt werden. Im Gegenteil, im Schnitt nahmen sie sogar drei Kilo ab, in Einzelfällen auch bis zu 15 Kilo“, sagte er. „Fünf große Studien zeigen zudem, dass das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse – Herzinfarkt etwa – deutlich sinkt, die Patienten sogar länger leben.“

Auch Juris Meier, Chefarzt des Diabetes-Zen­trums Bochum/Hattingen, sieht in dem Gewichtsverlust eine Riesenchance. „Das motiviert die Patienten erheblich. Wir haben schon erlebt, dass Patienten, die teilweise schon Insulin gespritzt haben, mit Inkretin und einer begleitenden Schulung zur Lebensstiländerung davon wieder weggekommen sind.“

Tagestherapiekosten von drei bis sechs Euro

Auf dem Markt sind bereits mehrere Varianten der GLP-1-Analoga verfügbar, die sich unter anderem dadurch unterscheiden, wie häufig sie eingenommen werden müssen. Allen Präparaten gemein ist, dass sie keine Unterzuckerungen auslösen können. Bei einer Insulin-Therapie bestehe immer das Risiko einer Unterzuckerung, die Dosis müsse ständig ausbalanciert werden, erläutert Juris Meier.

 Tropfen Insulin an der Nadel einer wiederverwendbaren Spritze, einem sogenannten Pen.
Tropfen Insulin an der Nadel einer wiederverwendbaren Spritze, einem sogenannten Pen. © dpa | Matthias Hiekel

„Das ist mit den Inkretin-Analoga nicht nötig.“ Deshalb sei auch die tägliche Bestimmung des Blutzuckerspiegels – meist über einen Pikser in die Fingerkuppe – überflüssig, ergänzt Nauck. Die Einstellung mit den Medikamenten sei dabei so stabil, dass eine vierteljährliche Kontrolle des Langzeit-Blutzuckerwerts ausreiche.

Bei der Einnahme der Medikamente würden 20 Prozent der Patienten zunächst Übelkeit und zehn Prozent Durchfälle beklagen, so Nauck. Das lege sich in vielen Fällen rasch. „Allerdings sind GLP1-Rezeptor-Agonisten nur für Typ-2-Diabetiker geeignet, die jedoch 95 Prozent aller Fälle ausmachen. Und nicht alle Patienten kommen ganz ohne Insulin aus, vor allem im fortgeschrittenen Stadium nicht.“

Laut Nauck liegen die Tagestherapiekosten bei drei bis sechs Euro. „Das ist deutlich mehr im Vergleich zu einer Tablettenbehandlung, liegt aber in etwa im Bereich einer ausreichend dosierten Insulin-Therapie“, so Nauck. „Die Krankenkassen tragen die Kosten, aber derzeit werden bei uns erst zwei Prozent aller Diabetiker mit GLP1-Rezeptor-Agonisten behandelt und 35 Prozent mit Insulin.“

Manche müssen irgendwann auf Insulin umsteigen

Nauck geht davon aus, dass die Präparate der nächsten Generation sogar noch effektiver auf das Gewicht wirken und auch den Blutzucker stärker senken. Zudem seien Medikamente, die oral eingenommen werden können, kurz vor der Beantragung einer Zulassung. Dann müsse also nicht mehr gespritzt werden. In „ein, zwei Jahren“ könne die Zulassung für ein Medikament in Tablettenform gelingen, glaubt Nauck.

„Langfristig hoffen wir zudem, dass die neuen Medikamente metabolische Chirurgie, etwa Magen-Bypass-Operationen bei schwer Übergewichtigen, überflüssig machen könnten. Denn wir glauben, dass deren Erfolg ebenfalls auf einer Veränderung des hormonellen Darmmilieus beruht. Darüber werden wir beim Kongress auch reden“, erklärte Nauck.

„Die neuen Präparate werden Insulin in der Diabetes-Therapie nicht verdrängen“, sagt der Diabetologe Nikolaus Scheper, der eine Praxis in Marl betreibt. „Aber wir haben mit den Mitteln einen besser gefüllten Werkzeug-Koffer für die Behandlung zur Verfügung.“

Scheper, der auch Vorsitzender des Bundesverbandes der niedergelassenen Diabetologen ist, schätzt, dass für etwa fünf bis zehn Prozent seiner Patienten die Inkretin-Therapie aufgrund der Nebenwirkungen nicht infrage komme. „Für diese Patienten stehen eine Reihe etablierter Präparate zur Verfügung, nicht zuletzt Insulin.“

Aber auch Patienten, die Inkretin-Analoga bekommen, müssten eventuell irgendwann auf Insulin umsteigen. Ist der Punkt erreicht, an dem die Bauchspeicheldrüse selbst nicht mehr ausreichend Insulin produziert, muss dieses von außen verabreicht werden, so Scheper. „Diabetes ist eine chronische und eine fortschreitende Erkrankung. Die bringt man nicht einfach so zum Stillstand.“