Mumbai. Corona war in Indien schon fast vergessen, doch jetzt steigen die Infektionszahlen wieder rapide. So kämpft das Land gegen das Virus.

Eine Warnung vor der neuen Omikron-Subvariante BA.2.75 des Coronavirus, die in Indien entdeckt wurde, hat Familienvater Shaikh noch nicht gehört. Dennoch hat er sich der Mumbaier am vergangenen Wochenende für eine dritte Corona-Impfung entschieden. Sein ältester Sohn hatte den Termin für ihn vereinbart, nachdem die Mutter zu Beginn der zweiten Corona-Welle an Komplikationen verstarb.

Damals, im Frühjahr 2021, wurde Indien von einer verheerenden zweiten Welle heimgesucht, in der viele Menschen verzweifelt und oftmals vergebens nach Medikamenten, Sauerstoff und freie Krankenhausbetten suchten. Die Asthmatikerin hätte sich damals im Gegensatz zu ihren beiden erwachsenen Söhnen leicht impfen lassen können. Doch ihre Vorbehalte waren zu groß.

Längst ist in Indien Corona sowie die Impfung für alle zum Alltag geworden, auch wenn es am Anfang noch Einschränkungen gab, um die vulnerablen Gruppen der 1,4 Milliarden großen Bevölkerung zu schützen. Indien verhängte gar Exportverbote für Impfstoff. Heute sieht die Lage anders aus: Vakzine sind genügend vorhanden.

Auch die Buchhalterin Smita Dicholkar, 28, hat den leichten Anstieg der Covid-Fälle bemerkt. Vor ein paar Wochen wurden plötzlich viele Bekannte krank. „Corona ist wieder aufgetaucht, und wir sehen immer mehr Fälle von Corona. Aber die Angst, die die Menschen während der ersten und zweiten Covid-Welle hatten, ist nicht mehr zu spüren“, sagt sie.

„Dafür gibt es gute Gründe. Was mich betrifft, so kann ich es mir nicht leisten, zu Hause zu bleiben, ich bin auf meinen Lohn angewiesen“, sagt die 28-jährige Mumbaierin. Andererseits fühle sie sich mit der Drittimpfung sicher. „Selbst wenn ich Corona bekomme, sollte nicht viel passieren“, hofft sie.

Warum viele Menschen in Indien Corona nicht mehr als Gefahr sehen

Doch die Impfbereitschaft ist in den vergangenen Monaten zurückgegangen. Nachrichten von entdeckten Varianten und Sublinen wie BA.2.75 finden nur noch wenig Gehör. Höhere Impfquoten, Immunität durch frühere Corona-Infektionen, medizinische Routine und teils abgeschwächte Coronaviren haben dazu beitragen, dass eine schwerwiegende Corona-Infektion für viele keine große Sorge mehr darstellt. Im Alltag treiben eher die steigenden Preisen die Menschen um.

Experten dagegen wie der Vorsitzende des Weltärztebundes Frank Ulrich Montgomery oder die oberste Wissenschaftlerin der Weltgesundheitsorganisation WHO, Soumya Swaminathan, zeigen sich alarmiert. BA.2.75 scheint auf eine Weise mutiert zu sein, die auf eine „große Immunflucht“ hindeuten könnte.

Unter anderem in Deutschland, Japan, Großbritannien, Nordamerika und den Niederlanden tauchte die mutierte Omikron-Variante ebenfalls auf. Sie soll sich ungewöhnlich schnell verbreiten und das Pandemie-Geschehen in Deutschland bereits mitbestimmen.

Wissenschaftler forderten die Regierung in Delhi auf, BA.2.75 genau zu beobachten. Sie sei wie andere Omikron-Untervarianten übertragbar, zeige aber eine leichte Erkrankung, sagte der Virologe Shahid Jameel, Research Fellow am Green Templeton College der Universität Oxford. Dennoch sei man erst am Anfang der Erforschung, so Jameel.

An einer Strategie zur Eindämmung des jüngsten Anstiegs der Covid-Fälle in Indien auf etwa 20.000 am Tag arbeitet derzeit die nationale Task Force. Mehrere Monate lang lag die Zahl der neuen Covid-19-Fälle unter 3000 am Tag.

Neben Warnungen gab es am Wochenende für die indische Regierung ein Lob von der WHO, nachdem das Land die Marke von zwei Milliarden Corona-Impfungen überschritt. „Während der gesamten Einführung des Impfstoffs haben die Menschen in Indien ein bemerkenswertes Vertrauen in die Wissenschaft bewiesen. Unsere Ärzte, Krankenschwestern, Mitarbeiter an vorderster Front, Wissenschaftler, Innovatoren und Unternehmer haben eine Schlüsselrolle bei der Gewährleistung eines sichereren Planeten gespielt”, sagte Premierminister Narendra Modi.

Regierung bietet Impfstoff zweieinhalb Monate lang kostenlos an

So war die jüngste Kampagne der indischen Regierung, die dritte Corona-Impfung für die kommenden zweieinhalb Monate kostenlos anzubieten, ein Anstoß, wieder über Corona zu sprechen und für Herrn Shaikhs ältesten Sohn einen Impftermin für seinen Vater zu vereinbaren.

Einmal geimpft sind in Indien über 73 Prozent der Bevölkerung, zwei Mal über 67 Prozent. Eine Boosterimpfung haben sich aber erst etwa vier Prozent geholt. Das mag auch daran liegen, dass die Drittimpfung erst nach längerer Wartezeit zugänglich gemacht wurde und die meisten Corona-Beschränkungen gefallen sind. Nur noch an manchen Arztpraxen hängen Hinweise zum Maskentragen.

„Derzeit nehmen die Covid-Infektionen zu. Aber nach meiner Beobachtung ist die Situation in diesem Jahr unter Kontrolle”, sagt der Allgemeinmediziner Naval Kishore Shinde. Er praktiziert in Mumbai sowie dessen Nachbarstadt Thane. Derzeit sei die Sterblichkeitsrate, der Sauerstoffbedarf von Patienten und die Zahl der Einweisungen in die Intensivstation weiter niedrig. „Ich denke, das ist auch darauf zurückzuführen, dass viele Menschen geimpft wurden”, merkt er an.

Für Shinde stehen derzeit ohnehin eher statt Corona-Sublinien die sogenannten Monsun-Krankheiten im Fokus. In der Regenzeit treten sie gehäuft auf und können über Mückenstiche, Ratten oder verunreinigtes Wasser ausgelöst werden. Anfangs können die Symptome von Dengue-Fieber, Malaria oder Leptospirose ähnlich wie bei einer Coronainfektion ausfallen. Doch mit der Zeit haben die Mediziner eine gewisse Routine gefunden. Am hilfreichsten sind immer noch Tests, um die Krankheit zu identifizieren.

Um das Risiko einer Doppelinfektion zu verringern, empfiehlt Shine seinen Patienten die Covid-19-Auffrischungsimpfung. „Dass die Regierung sie nun kostenfrei zur Verfügung stellt, wird definitiv helfen, um mehr Menschen zu erreichen”, sagt er. Gerade auf dem Land hat der Arzt festgestellt, dass die Bereitschaft sich zu immunisieren geringer ist als in den Städten, wo öfters ein Impfnachweis verlangt wird.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.