Fukushima. Der Atomunfall von Fukushima hat das Leben Tausender Menschen schlagartig verändert. Wir haben einige der ehemaligen Bewohner besucht.

Ein Haiku ist ein klassisches japanisches Gedicht, das nur 17 Silben haben darf und von der Natur handeln muss. Der 37 Jahre alte Japaner Ryo Kikuchi hat ein Haiku über Fukushima geschrieben, in seinem Gedichtband „Schlechte Zeiten für Haiku“. Dass er allein fünf Silben für das Wort Klimaanlage braucht, zeigt, wie schwierig es ist, etwas Schönes über Natur zu schreiben. Das Haiku lautet:

„Ohne Ernte

Ist der Herbst so nüchtern

Wie eine Klimaanlage“

Dabei lässt sich in Fukushima im sechsten Jahr nach der Katastrophe wieder ernten, aber die Frage ist, ob der Ort je wieder den Ruf haben wird, den er vor dem 11. März 2011 hatte. Das war der Tag, als ein Erdbeben die Region um Fukushima erschütterte und kurz darauf ein Tsunami drei Meiler des Atomkraftwerkes zerstörte.

Zeugen leben die Unglückstage immer wieder durch

Am nächsten Morgen, dem 12. März 2011, um 6.09 Uhr, schrillen in Okuma, rund 30 Kilometer nördlich des Atomkraftwerkes, die Sirenen. Yoko Shoji hat nur wenige Minuten Zeit. Sie versucht, an alles Wichtige zu denken: Ausweis, Geld, Telefon, Sparbuch, das Stempelsiegel, mit dem in Japan Briefe unterschrieben werden. Sie packt alles ein. Doch etwas fehlt … Erst als sie mit ihrem Ehemann im Auto sitzt, fällt ihr auf, woran sie nicht gedacht hat: ihre Katze Hima. Hima ist der Spitzname für Himawari, und das bedeutet „Sonnenblume“. Hima ist noch im Haus.

Yoko Shoji hat früher in Fukushima gewohnt.
Yoko Shoji hat früher in Fukushima gewohnt. © Sören Kittel

Yoko Shoji erzählt im November 2017 nicht nur von diesen schlimmsten Minuten in ihrem Leben, wie sie sagt, sie lebt sie noch einmal durch. Sie wohnt jetzt in einem schönen Haus in der Stadt Aizu Wakamatsu, rund 100 Kilometer weit weg von ihrer alten Heimat, die sie nicht mehr betreten darf. Denn Okuma liegt innerhalb jener drei Prozent der Präfektur Fukushima, die noch auf Jahre für die Öffentlichkeit Sperrgebiet bleiben werden. „Ich habe an diesem Tag mein altes Leben verloren, meine Freunde, meine Heimat, mein Haus“, sagt sie.

Aufräumarbeiten werden bis zu 40 Jahre dauern

An den Folgen des Tsunamis starben rund 18.000 Menschen, an den Folgen des Nuklearunfalls – so zumindest die offizielle Zählung – ist bisher niemand zu Tode gekommen. Doch die Strahlung vergiftete in der Region die Luft, das Wasser, die Erde auf Jahrzehnte. Nicht nur Japan, sondern die ganze Welt überdenkt danach ihr Verhältnis zur Kernenergie. Die damals schwarz-gelbe Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel beschließt kurz darauf für Deutschland den schnelleren Atomausstieg. Japan geht diesen Schritt nicht.

Wie Teddybären an die Katastrophe von Fukushima erinnern

weitere Videos

    Die Regierung und das japanische Nuklearunternehmen Tepco setzen auf Schadenbegrenzung, schalten sämtliche Atomkraftwerke zwar vorerst ab. Die Aufräumarbeiten werden bis zu 40 Jahre dauern, mittlerweile können viele Bürger zurück in ihre Häuser. Jetzt aber will die Regierung die Kraftwerke wieder ans Netz gehen lassen.

    Japaner legen Wert auf ihre Heimat

    Das Land ist bei diesem Thema gespalten, das weiß auch Yoko Shoji, die ja schließlich jahrelang auch vom Atomkraftwerk profitiert hat. „Rund 95 Prozent der Jobs waren in der Region vom Atomkraftwerk abhängig“, sagt sie, „Okuma konnte wachsen.“ Aber gleichzeitig lebten sie auch in der Nachbarschaft einer Anlage, die eine unvorstellbare und unsichtbare Gefahr darstellte. „Nach dem Erdbeben haben sie uns zwar gesagt, dass wir gehen sollen, aber wir hatten von der drohenden Gefahr durch die Radioaktivität noch keine Vorstellung.“ Erst vier Monate nach dem Unglück durften sie für kurze Zeit zurück nach Okuma. „Da war die Strahlung zwischen 30 und 40 Mikrosievert stark, deshalb durften wir nur kurz bleiben und wenige Dinge mitnehmen.“

    Bei einem dieser Besuche nahm sie ihre Katze Hima mit in ihr neues Zuhause, wo der Wert bei 0,1 bis 0,2 Mikrosievert liegt. Aber trotzdem leidet sie. Japaner sind konservative Menschen, wenn es um Heimat geht. Der Ort, von dem jemand abstammt, ist wichtig, dort liegen die Ahnen. Außerdem bietet gerade dieser Teil von Fukushima viel Schönes: Wanderungen in den Wäldern, an der Küste, mit die schönsten Sonnenuntergänge im Land – auch daran erinnert sich Yoko Shoji.

    NGOs gaben kostenlose Geigerzähler aus

    Der Geigerzähler im Wald: 0,4 Mikrosievert sind ungefährlich.
    Der Geigerzähler im Wald: 0,4 Mikrosievert sind ungefährlich. © Sören Kittel

    Die Grenzwerte für Radioaktivität waren noch lange ein Thema in Japan. Azby Brown ist Kanadier, der seit fast 20 Jahren in Tokio lebt. Er war lange Jahre Professor für Architektur, aber das Erdbeben 2011 hat auch sein Leben verändert. Er arbeitet jetzt für die Nichtregierungsorganisation Safecast. In den ersten Wochen hätten viele Vorstände und Politiker ihr Gesicht nicht verlieren wollen und deshalb nicht immer die richtigen Daten weitergegeben. „Das führte aber dazu, dass das Wichtigste nach so einem Unglück verloren ging: das Vertrauen der Bürger in die Obrigkeit.“ Die hätte gesagt, dass bis zu 20 Mikrosievert noch unbedenklich seien. Wochen später wurde dieser Grenzwert auf fünf Mikrosievert verringert.

    Safecast bietet Bürgern die Möglichkeit, sich kostenlos selbst mit einem Geigerzähler auszurüsten. „Wir haben inzwischen schon eine gewisse Müdigkeit festgestellt bei Bürgern“, sagt Azby Brown aber auch. „Sie sehen die Strahlung nicht und wollen sich einfach nicht mehr damit befassen.“ Zudem seien die Angaben der Regierung heutzutage sehr genau und detailliert.

    Die älteren Bewohner bleiben öfters zurück

    Ein konkretes Problem, das die lokalen Politiker jetzt lösen wollen, ist das der Bevölkerungsentwicklung. Davon erzählt Ito Mitsuyuki, der im Stadtrat von Soma sitzt, einer Stadt nur wenige Kilometer nördlich von der Geisterstadt Okuma. Soma hat einen der größten Fischereihäfen des Landes. 18.000 Tonnen Fisch haben sie vor dem Desaster pro Jahr gefangen. Jetzt sind es 1900 Tonnen. „Wenn sich unser Ruf nicht bald erholt, werden wir demnächst weder Fischer noch Farmer haben“, sagt er.

    Zurück bleiben oft ältere Bewohner. Und Mitsuyuki muss Sorge dafür tragen, dass die Leute hier Kinder bekommen. Dabei unterscheidet sich der Mikrosievert-Wert in der Luft nicht von dem in Tokio oder in Berlin. Er liegt konstant unter 0,2 und damit im Normalbereich. Erste Erfolge kann die Regierung verzeichnen: „Die Skepsis gegenüber den Produkten aus der Region weicht langsam einem Willen, die Bevölkerung von Fukushima zu unterstützen“, sagt er, „nicht zuletzt weil seit Jahren Fisch, Fleisch und Gemüse strengen Kontrollen unterzogen werden.“ Aber zu der Wiedereröffnung der Atomkraftwerke hat er eine klare Meinung: „Keiner hier aus der Region würde wieder in der Nähe eines solchen Kraftwerkes wohnen.“

    Bewohnerin ist strikt gegen weitere Atomkraftnutzung

    Dabei sagt Tepco, dass die Kraftwerke inzwischen sicherer seien, besonders jenes in Kashiwazaki-Kariwa, an der Westküste in gleicher Höhe zu Fukushima. Dort wurden die Kühlungsbehälter höher gebaut und sind so vor einer Tsunami-Welle geschützt. Das war eine Maßnahme, die auch für das Kraftwerk in Fukushima geplant war.

    Sie hätte den GAU verhindert. Doch Greenpeace ist das nicht genug. Zusammen mit anderen Aktivisten weisen sie auf die konstante Erdbebengefahr in Japan hin – und auf den geringen Anteil, den Atomenergie derzeit im Land an der Stromerzeugung hat, nur drei Prozent. Doch der zuständige Gouverneur will über die Eröffnung erst entscheiden, wenn alle Daten erhoben sind. Das kann noch Monate dauern.

    Teddybären für Touristen

    Auch Yoko Shoji ist gegen das Wiederanfahren irgendeines Atomkraftwerkes. Um die Erinnerung an ihre alte Heimat Okuma wachzuhalten und vor den Folgen von Nuklearenergie zu warnen, hat sie wieder angefangen zu nähen. „Als ich nach Aizu Wakamatsu kam“, sagt die gelernte Näherin, „war das Schlimmste für mich die viele Zeit.“

    Sie begann, Teddybären zu basteln, denn Okuma bedeutet „großer Bär“. Politiker bekommen einen geschenkt, Touristen kaufen sie. Sie haben keinen Mund. „Ich wollte ihnen kein Gefühl mit auf den Weg geben“, sagt Yoko Shoji, „ich wollte, dass der Betrachter ihnen sein Gefühl gibt.“ Sie wirkt sehr ernst. „Wir senden keine starke Nachricht“, sagt sie, „nur eine mit diesen kleinen Puppen, aber wir werden nicht leiser werden.“