Berlin. Millionen Deutsche bekommen trotz Reproduktionsmedizin keine Kinder. Experten warnen vor Depressionen und raten früh zu einem Plan B.

Die Hochzeit, das Haus, die Kinder – für Annika (38, Name geändert) hatte das alles immer untrennbar zusammengehört. Als sie mit ihrem Mann die Pläne für den Hausbau durchging, plante das Paar drei extra Zimmer – vorsichtshalber, man weiß ja nie. Doch Annika wurde nicht schwanger, nicht nach dem Einzug ins Haus, nicht als im Garten der Schnee lag.

Im nächsten Winter sagte ihr ein netter gemütlicher Arzt in einer Kinderwunschklinik, was die Fotografin aus Düsseldorf längst ahnte: Sie konnte nicht schwanger werden. Auf natürlichem Wege auf keinen Fall. Auf dem Weg der Reproduktionsmedizin vielleicht. Nur zu große Hoffnungen sollte sie sich nicht machen.

Reproduktionsmedizin kann vielen nicht helfen

Für Annika brach eine Welt zusammen. Noch beim Arzt weinte sie bitterlich, monatelang konnte sie vor dem Einschlafen an nichts anderes denken, als dass ihr großes Haus leer bleiben würde. Vor den Hormonbehandlungen war ihr schlecht vor Nervosität, mit jeder einsetzenden Monatsblutung hasste sie ihren Körper, dem sie so viel abverlangte, mehr. „Manchmal lag ich tagelang im Bett, meldete mich krank, ich wollte niemanden sehen“, erzählt sie.

Und Annika ist nicht allein. Tatsächlich sind in Deutschland laut Expertenangaben rund sechs Millionen Frauen und Männer zwischen 25 und 59 Jahren ungewollt kinderlos, nur die Hälfte kann sich ihren Wunsch durch medizinische Behandlungen doch noch erfüllen – die andere Hälfte muss lernen, mit der traurigen Situation umzugehen.

Bis zu 20 Prozent der betroffenen Frauen leiden an Depressionen

„Die Diagnose, dass Kinderkriegen medizinisch auf normalem Wege nicht möglich ist, empfinden viele Paare als Schock – vor allem die Frauen“, sagt Tewes Wischmann dieser Zeitung. Der Psychoanalytiker forscht seit mehr als 20 Jahren zur Psyche von Frauen während einer Kinderwunschtherapie. „Die reproduktionsmedizinischen Behandlungen können mit jedem erfolglosen Versuch die Frauen in eine Abwärtsspirale der Depression bringen“, fand der Experte heraus. Laut seinen Studien leiden zehn bis 20 Prozent der Frauen in dieser Zeit an einer klinisch relevanten Depression.

Es habe sich laut Wischmann sogar gezeigt, dass Paare mit Kinderwunsch einen gescheiterten Behandlungsversuch psychisch häufig genauso wahrnehmen wie den Tod eines nahen Verwandten oder eine schwere Krankheit. Die Trauer haben dann meist auch Auswirkungen auf das soziale Umfeld, weiß Anja Graef. Die selbst betroffene Kauffrau gründete vor zwei Jahren die Selbsthilfegruppe Dornröschen in Troisdorf bei Köln. „Freunde und Familie, die dann mitfiebern, lösen Druck auf die Paare aus“, sagt sie.

Man werde ein Stück in die Einsamkeit gedrängt. Entscheiden sich die Frauen dann für eine Hormontherapie, kommt es laut Anja Graef dann häufig zu einer Doppelbelastung. „Alle paar Tage muss man den Spagat zwischen Job und Klinik hinbekommen. Man hat das Gefühl, keinem mehr gerecht zu werden.“ Am Ende leide nicht selten die Partnerschaft.

Ohne Herzschmerz am Spielplatz vorbeigehen

Deshalb empfiehlt die Expertin gleich mit Beginn der Kinderwunsch-Behandlungen, den Kontakt mit anderen Betroffenen zu suchen. „Die Geschichten der anderen können sehr inspirierend sein“, sagt Graef. Den Kinderwunsch aufzugeben, ist dann ein langer Prozess, aber für viele befreiend. „Dann muss man sich die Frage stellen: Was will ich von meinem Leben in den nächsten 20 Jahren?“ Für viele sei das dann ein Neuanfang. Ein anderer Beruf. Ein Ortswechsel. Ein Bauernhof in Norddeutschland, der aufwendig renoviert wird. Eine Weltreise.

„Ich empfehle den Paaren in der Beratung immer, sich noch vor Beginn der Behandlungen einen Plan B zurechtzulegen“, rät auch Psychologe Tewes Wischmann. Und dass echtes Lebensglück auch ohne eigenen Nachwuchs möglich ist, sei unbestritten. So fand auch eine weltweite Studie des US-Fachmagazins „Proceedings of the National Academy of Scienes“ heraus, dass Kinder nicht unbedingt zufriedener machen. Eltern berichteten innerhalb der Studie sogar von mehr emotionalen Hoch und Tiefs als Kinderlose und von mehr Stress.

Annika hat sich schließlich nach drei künstlichen Befruchtungen und unzähligen Arztrechnungen im vierstelligen Bereich für einen Abbruch der Behandlungen entschieden. Sie sprach mit kinderlosen Frauen, die wie sie mittlerweile Dokumentarfilme drehen, Goldmedaillen gewannen, eine ist Moderatorin beim Fernsehen. Heute genießt sie die Ferien mit ihren vier Nichten und kann ohne Herzschmerz an einem Spielplatz vorbeigehen. „Ich liebe Kinder“, sagt sie. Auch das sei etwas, das bleibt.