Berlin. In der Antarktis droht ein Massiv ins Meer zu brechen. Mit 5000 Quadratkilometern entstünde einer der größten verzeichneten Eisberge.

Es sieht aus, als hätte ein Riese mit gigantischem Pflug seine Bahn gezogen: Bis zum Horizont zerteilt der 160 Kilometer lange und über 300 Meter tiefe Riss das endlose Weiß des Eises. Ein majestätischer Anblick, den nur eine Handvoll Menschen mit eigenen Augen sehen wird.

Denn der Riss zieht sich durch das Larsen-C-Schelfeis in den Ausläufern der Antarktis. Dass dieses Naturereignis fernab der Zivilisation jetzt in den Fokus der Öffentlichkeit rückt, hat einen Grund: In Kürze könnte hier ein rund 5000 Quadratkilometer großer Eisberg abbrechen und ins offene Meer treiben – einer der größten, den die Menschheit je verzeichnet hat.

Ursprung des Risses ist unklar

Schelfeis nennt man große, schwimmende Eismassen, die mit Gletschern und Eisströmen vom Festland verbunden sind. Dass darin Risse entstünden und kleinere Bereiche abbrächen, um als Eisberge ins Meer zu treiben, sei nichts Besonderes, erklärt Daniela Jansen, Geophysikerin und Gletscherexpertin am Alfred-Wegener -Institut, das zum Helmholtz-Zen­trum für Polar- und Meeresforschung gehört: „Diese Risse entstehen, wenn sich das Schelfeis an Hindernissen vorbeiquetschen muss.“

Doch dieser Riss sei anders: „Er war von Anfang an größer als die anderen Strukturen. Wo er herkommt, ist unklar, da die Ansätze schon auf den ältesten zur Verfügung stehenden Satellitenbildern zu sehen sind.“

Die Geburtsstunde eines gigantischen Eisbergs

Jansen beobachtet das Larsen-C-Schelf, das nördlichste große Eisschelf der Antarktis, schon seit 2008 – von ihrem Schreibtisch aus: Satellitenbilder der Region erlauben ihr mitzuverfolgen, ob die 350 Meter dicke Eismasse wächst und wie ihre Beschaffenheit ist.

Anfang 2015 macht die Glaziologin – so heißen Gletscherexperten im Wissenschaftsbetrieb – eher zufällig eine aufregende Entdeckung: Sie sah einen „Riss im Larsen-C-Schelfeis, der im vergangenen Jahr plötzlich um 30 Kilometer gewachsen ist, obwohl er vorher jahrzehntelang mehr oder weniger stabil gewesen ist“, schreibt Jansen im Eisblog des Alfred-Wegener-Instituts.

Eigentlich hatte sie nur nach einem aktuellen, wolkenfreien Satellitenbild gesucht, um es ihrem Kollegen Adrian Luckmann von der Swansea University zu schicken. Der hatte gerade mit weiteren Kollegen für das Antarktis-Forschungsprojekt „Midas“ sein Lager auf dem Larsen-C-Schelf aufgeschlagen, um mithilfe von Bohrungen dessen innere Struktur zu untersuchen.

Entdeckung elektrisierte Wissenschaftler

Die Entdeckung Jansens elektrisierte die Wissenschaftler, denn schon damals war klar, dass der Riss einen gigantischen Eisberg schaffen könnte. Dabei bricht ein Teil des Schelfs ab und treibt ins Meer. Man sagt dazu „Kalben“.

Modellrechnungen zufolge würde sich Larsen C von solch einem großen Eisverlust nicht mehr erholen. „Dann würde sich die Front langsam immer weiter zurückziehen und das Schelfeis letztendlich zerfallen“, sagt Jansen. Ein ähnliches Schicksal erlitt der nördliche Nachbar Larsen B 2002 und büßte dabei nahezu seine gesamte Fläche ein.

Doch bei Larsen C blieb es zunächst ruhig, der Riss wuchs kaum. Anderthalb Jahre später jedoch – im August vergangenen Jahres – folgte die Überraschung: Ein erstes Satellitenbild nach dem antarktischen Winter zeigt deutlich, dass der Riss um 25 Kilometer gewachsen war. Wie und wann genau er sich in den zurückliegenden Wochen entwickelt hat, können die Gletscherexperten nur mutmaßen – in der Zeit von Mitte Mai bis Mitte August fällt kein Sonnenlicht auf Larsen C, selbst für Satelliten herrscht in dieser Zeit über der Antarktis nur undurchdringliche Dunkelheit.

Nur noch 20 Kilometer bis zum Meer

Doch warum dieses plötzliche Fortschreiten? Das habe unter anderem mit der unterschiedlichen Beschaffenheit des Eises zu tun, erklärt Jansen. Schelfeis bestehe aus mehreren Einheiten von Gletschereis, das vom Land ins Meer fließe. An den Nahtstellen zwischen den Gletschereisabschnitten bilde sich teilweise auch Eis aus gefrorenem Meerwasser, das im Vergleich zum Landeis wärmer und damit auch weicher sei als das einfließende Landeis.

Kaltes Landeis reagiere auf Belastung spröde, das heiße, ein Bruch breite sich mit Schallgeschwindigkeit aus ähnlich wie bei einem Erdbeben, erklärt Geologin Jansen. An den Nahtstellen reiße das weiche Eis dagegen deutlich langsamer, „wie sich zum Beispiel ein Riss in Wackelpudding ausbreiten würde“.

Doch noch im vergangenen Sommer scheint den Experten das Abbrechen des Schelfabschnitts eher eine Sache von Jahren denn von Monaten zu sein – Gewissheit haben sie nicht. Denn ausgerechnet jetzt hängen dichte Wolken über Larsen C und verhindern eine Beobachtung des Risses mit optischen Mitteln.

Notgedrungen greifen Jansen und ihre Partner von „Midas“ auf Radaraufnahmen zurück: Sie werden von Wolken zwar nicht behindert, sind aber auch deutlich schwerer zu interpretieren als Fotos. Noch Ende Dezember können die Experten keine Veränderung erkennen – doch vor wenigen Tagen gibt es Gewissheit: Der Riss ist um 18 Kilometer gewachsen, nur noch 20 Kilometer trennen ihn vom Meer.

Abbrechen ist ein natürlicher Prozess

„Der Eisberg hängt am seidenen Faden“, sagt „Midas“-Projektleiter Adrian Luckman. Dass es nun immer schneller gehe, habe auch damit zu tun, dass ablandiger Wind und Gezeiten durch den wachsenden Riss eine größere Angriffsfläche und einen längeren Hebel bekämen, erläutert Jansen. „Wir können davon ausgehen, dass es bald zu einem Kalbungsereignis kommt und warten gespannt“, schreibt sie im Blog. Auch Luckman glaubt, dass es bald so weit ist. „Ich wäre erstaunt, wenn er nicht in den nächsten Monaten abbricht.“

Große Wellen oder einen Anstieg des Meeresspiegels wird man dabei nicht beobachten – das Schelfeis schwimmt ja bereits im Wasser. Vermutlich werde der Eisberg mit der Zeit nach Norden driften und dann mit dem Zirkumpolarstrom weiter nach Osten reisen. „Ich würde nicht davon ausgehen, dass er es bis an die Küste von Südamerika oder Südafrika schafft. Aber er könnte schon ein bis zwei Jahre durchhalten“, schätzt Jansen.

Was bleibt, ist die Frage, wie das Larsen C auf den Eisverlust reagieren wird. Ob es tatsächlich irgendwann ganz auseinanderbricht oder sich vielleicht sogar wieder erholt. Immerhin habe der Vorgang selbst nichts mit einem Temperaturanstieg zu tun, das sei „ein natürlicher Prozess“, wie Martin O’Leary, ein Experte des „Midas“-Projekts, versichert. Es sei aber möglich, dass der Klimawandel den Prozess immerhin beschleunigt habe – Beweise gebe es dafür jedoch nicht.